Ein Denkmal für die athenische Demokratie: Die Tyrannenmörder

Zwei Männer stürmen Seite an Seite voran; sie schwingen jeder ein Schwert. Wer direkt vor ihnen steht, glaubt beinahe, Ziel ihres Angriffes zu sein.   Diese Statuengruppe, die in mehreren Kopien römischer Zeit überliefert ist, stand ursprünglich auf der Agora, dem politischen Zentrum Athens. Dort war sie 477 v. Chr. zu Ehren von Harmodios und Aristogeiton aufgestellt worden, die 514 v. Chr. den Tyrannen Hipparchos in Athen getötet hatten. Dieses Attentat wurde als Befreiungstat gewertet, die zur Einführung der Demokratie in Athen führte. Allerdings regierte Hippias, der Bruder des Hipparchos, noch weitere vier Jahre allein, bis er 510 v. Chr. ins Exil gehen musste.

Harmodios wurde schon im Kampf mit der Leibwache des Tyrannen gleich nach dem Attentat getötet; Aristogeiton wurde später gefasst und hingerichtet.

Die beiden Statuen der Tyrannenmörder blieben rund 100 Jahre die einzigen Statuen, die Sterblichen auf der Agora von Athen errichtet wurden. Dies wird von antiken Autoren betont. Das Denkmal war für das Selbstbewusstsein der athenischen Demokratie von zentraler Bedeutung. Das wussten auch die Perser, die bei ihrer Plünderung von Athen 480 v. Chr. ein älteres Denkmal für die Tyrannenmörder als Kriegsbeute verschleppt hatten. Doch schon drei Jahre später wurde es von den Athenern erneuert.  

Es stellt sich die Frage, was dieses Denkmal über die beiden Attentäter aussagt und was über den Staat, der das Denkmal in Auftrag gab. Die beiden Statuen sind gleich groß. Harmodios ist jung und bartlos; Aristogeiton ist älter und trägt einen Bart. Dies entspricht den antiken Nachrichten, dass die beiden ein Liebespaar nach der Sitte der Zeit waren, wobei ein älterer Mann jeweils einen jüngeren, noch nicht voll erwachsenen umwarb.  

Harmodios holt mit dem Schwert über dem Kopf zum Hieb von oben aus; Aristogeiton lässt den Arm mit dem Schwert in Hüfthöhe zurückschwingen, um zuzustechen. Die Drehung der Körper und die Schrittstellung der beiden Figuren sind nahezu spiegelsymmetrisch. Rücken an Rücken stehend greifen sie an und geben sich damit gegenseitig Deckung, ohne die Aktion des anderen zu behindern.   So geben sie nicht nur ein Bild entschlossenen Mutes zum Kampf gegen einen gemeinsamen Feind, sondern auch ein Bild unterschiedlicher Freunde, die koordiniert zusammenarbeiten. Harmodios kämpft mit jugendlichem Wagemut, Aristogeiton mit der Besonnenheit des älteren Mannes.   Die Gruppe verkörpert gemeinsames Vorgehen gegen Tyrannen oder andere Feinde und steht damit für zentrale Werte der athenischen Demokratie. Attische Schriftsteller des 5. Jahrhunderts v. Chr. erwähnen in Zeiten drohender Auseinandersetzungen mehrfach Versammlungen auf der Agora, wo sich die Bürger neben der Gruppe der Tyrannenmörder kampfbereit einreihen. Als Vorkämpfer der Demokratie sind sie auch Vorbild für die Disziplin und den Zusammenhalt, die von den Bürgern gefordert wird.   Einiges spricht dafür, dass dieses offizielle Bild der Tyrannenmörder auf einer Fiktion beruht, die zur Identitätsstiftung in Athen gebraucht wurde, das in dieser Zeit erstmals eine demokratische Verfassung hatte. Es darf bezweifelt werden, dass Harmodios und Aristogeiton, die zur Aristokratie Athens gehörten, bei ihrem Anschlag an die Einführung der Demokratie dachten. Möglicherweise trieben sie persönliche Motive, z.B. Eifersucht, weil der getötete Tyrann Hipparchos ein Konkurrent des Aristogeiton um die Gunst des schönen Harmodios war.  

Erst im Rückblick wurde klar, dass ihr Attentat Auslöser einer Serie von Ereignissen war, die schließlich zum Sturz der Tyrannen und zur Einführung der Demokratie führte. Darum wurden sie als Helden stilisiert, denen man unterstellte, sich für die Demokratie geopfert zu haben. Dies war umso leichter, als beide schon tot waren, also nicht mehr widersprechen konnten.  

Beim Vergleich der ein Jahrhundert älteren Gruppe von Kleobis und Biton mit der Statuengruppe der Tyrannenmörder fallen Unterschiede auf: Harmodios und Aristogeiton sind deutlich voneinander unterscheidbar; sie werden im Moment der Tat gezeigt, für die sie berühmt wurden.

Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass auch diese Gruppe keine zufällige Momentaufnahme ist, sondern traditionellen künstlerischen Konventionen folgt. Besonders deutlich wird dies daran, dass auch hier die Figuren nackt dargestellt sind. Nur Aristogeiton trägt ein Manteltuch über dem ausgestreckten linken Unterarm. Es ist undenkbar, dass die beiden nackt zum Empfang beim Tyrannen auftraten. Denn unbekleidet ließen sich Männer nur auf Sportplätzen sehen, aber sonst in der Öffentlichkeit nicht. Die Nacktheit der Statuen soll wieder Kraft und Schönheit der Dargestellten zeigen. Die weicheren Formen des Körpers des Harmodios verkörpern das Ideal der Jugendschönheit; die härtere kräftige Muskulatur des Aristogeiton das Idealbild des durchtrainierten reifen Mannes.  

Auch hier ist Individualität nach heutigem Verständnis kein Thema der Kunst. Zufällige Mängel der äußeren Erscheinung, wie sie sterblichen Menschen eigen sind, sollten das Denkmal der vorbildlichen Helden der athenischen Demokratie nicht beeinträchtigen.

Im Text hast du gelesen, warum den Tyrannenmördern Harmodios und Aristogeiton in der Antike ein Denkmal errichtet wurde. Vergleiche das mit Anlässen, zu denen heute Denkmäler errichtet werden. Stelle deine Ergebnisse in einer Tabelle in der Form „damals − heute“ gegenüber.

Sammlung E-learning Quellen Literatur
TyrannenmörderFunktionen: Ehrenstatuen
5. Jahrhundert
 Burkhard Fehr, Die Tyrannentöter, oder: Kann man der Demokratie ein Denkmal setzen. Reihe: Fischer kunststück, Hrsg. Klaus Herding, 1984