Homer

Ob Homer wirklich gelebt hat oder nicht, ist aus heutiger Sicht nicht sicher nachzuweisen. Neben einer Reihe von Anekdoten, sind von ihm lediglich fiktive Porträts überliefert − die meisten Bildnisse zeigen ihn als blinden Sänger.

Zur Person  

Homer lebte im 8. Jahrhundert v. Chr. im ionischen Kleinasien; seine genaue Lebenszeit ist unbekannt. Als historische Person ist der Dichter, dem in der Antike die beiden Epen „Ilias“ und „Odyssee“ zugeschrieben wurden, nicht sicher umgrenzt. Schon im Altertum konkurrierten sieben Städte darum, seine Geburtsstadt zu sein. Die Tradition berichtet von Homer als dem blinden Sänger, der die Ilias und die Odyssee gedichtet habe. Es wird jedoch heute angenommen, dass die beiden Epen nicht vom selben Dichter geschaffen wurden; die Odyssee, das jüngere der Werke, stammt wohl nicht vom Dichter der Ilias. Der Stoff zu beiden Epen existierte bereits seit dem 2. Jahrtausend v. Chr., schriftlich festgehalten wurden die Gesänge jedoch erst lange Zeit nach Homer. Der Dichter ist der Überlieferung zufolge auf Ios begraben; der Zeitpunkt seines Todes und der Ort, an dem er starb, sind jedoch seit der Antike umstritten. Als Persönlichkeit gehört Homer, über den viele fiktive Anekdoten erzählt wurden, beinahe selbst ins Reich der Sage.  

Zum Bild des Homer in der antiken Literatur  

Es gab in der Antike viele Porträts Homers, die jeweils die Vorstellung der Menschen ihrer Entstehungszeit vom größten der griechischen Dichter wiedergeben; denn in der Zeit, in der Ilias und Odyssee entstanden, gab es noch keine solchen Bildnisse von Menschen.  

Meist stellte man sich Homer als blinden Sänger vor, so wie der Sänger Demodokos in der Odyssee blind ist. Diese Vorstellung steht in einer Tradition, nach der göttlich inspirierte Dichter und Seher des Mythos blind waren: Die Visionen vor ihrem inneren Auge waren um so deutlicher.  

Das älteste, vom Reiseschriftsteller Pausanias erwähnte Porträt Homers entstand im 5. Jahrhundert v. Chr.; es stand als Teil des Weihgeschenkes des Mikythos in Olympia. Im Hellenismus richteten Könige und Städte Heiligtümer für Homer ein, in denen er kultisch verehrt wurde. In diesen Heiligtümern gab es selbstverständlich auch Bildnisse Homers. In römischer Zeit waren Kopien nach älteren Bildnisschöpfungen ein beliebter Schmuck von Bibliotheken, wie Plinius berichtet. Noch in byzantinischer Zeit beschrieb Christodoros eine Statue Homers, die in Konstantinopel stand. Aus seiner Beschreibung geht hervor, dass Homer als ehrwürdiger, bärtiger Greis dargestellt war; sein Bildnis erinnerte an Darstellungen des Vatergottes Zeus.

Beobachtungen zum Porträt  

In Kopien römischer Zeit wurden verschiedene Typen von fiktiven Porträts des Homer verbreitet.   Am beliebtesten waren ein klassischer Porträttypus aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. und ein hellenistischer Porträttypus, der wohl im 2. Jahrhundert v. Chr. entworfen wurde.   Der ältere Bildtypus, der u.a. von einer Kopie in München vertreten wird, wurde wegen seiner geschlossenen Augen, die Blindheit andeuten, als Darstellung Homers identifiziert. Er zeigt den Dichter als alten Mann mit einer von Falten gefurchten Stirn, langem Bart und einer eigenartigen Lockenfrisur:

Am Hinterkopf und den Seiten fallen die Haare in halblangen, lockigen Strähnen herab. Vorn sind die Haare in wesentlich längeren Strähnen vom Wirbel aus bis zur Stirn gekämmt, dort zu Wellen eingedreht und in der Mitte verknotet. Um den Kopf ist eine wulstige Binde gelegt.   Diese aufwendige Frisur und der sorgfältig in Form gebrachte Bart charakterisieren Homer als einen vornehmen alten Mann von gepflegter Erscheinung. Die Anordnung der Haare mit dem Knoten über der Stirn ist geeignet, eine Stirnglatze zu überdecken.   Die Lippen des Homerbildnisses sind leicht geöffnet, als ob er seine Verse anstimmte. Trotz der geschlossenen Augen wirkt das Gesicht konzentriert, als lausche der Dichter in sich hinein.

Der hellenistische Porträttypus gibt ein pathetischeres Bild Homers; die Mimik ist bewegter, Haare und Bart stärker gelockt. Auch dieses Bildnis zeigt Homer als Greis; unter der Binde kommen nur wenige Haarfransen über der Stirn hervor, an den Schläfen weicht der Haaransatz zurück. Stirn und Wangen sind von Altersfalten zerfurcht. Der Mund des Dichters ist auch bei diesem Bildnis leicht geöffnet. Die Blindheit Homers wird jedoch nicht mehr durch geschlossene Augen angezeigt, sondern detaillierter durch die weit über die ganz flachen und kleinen Augäpfel gezogenen Lider. Dadurch entsteht der Eindruck blickloser Augen, die ziellos ins Leere weisen.   Die Mimik und die Wendung des Gesichts nach oben geben das Bild eines inspirierten Dichters, der ohne Ablenkung durch äußere Eindrücke besingt, was er vor seinem inneren Auge sieht und in der Phantasie erlebt.

Ein Relief, das in den Albaner Bergen bei Rom gefunden wurde, zeigt eine Ehrung Homers durch Götter und Personifikationen, die durch Beischriften benannt sind.

Homer thront im untersten Bildabschnitt; neben seinem Sitz kauern die Personifikationen von Ilias und Odyssee, außerdem zwei Mäuse, die für die Homer zugeschriebene Dichtung „Batrachomyomachia“ (= Frosch-Mäuse-Krieg) stehen. Hinter Homer stehen „Chronos“ (= Zeit) und „Oikumene“ (= bewohnter Erdkreis), die ihm einen Kranz aufsetzt. Vor Homer steht ein Altar, an dem „Historia“ (= Geschichte) und „Mythos“ (= Sage) ein Stieropfer vorbereiten. Als Verehrergemeinde nähern sich von rechts „Poiesis“ (= Dichtkunst), „Tragodia“ (= Tragödie) und „Komodia“ (= Komödie) mit Masken, „Physis“ (= Natur) als kleines Mädchen, „Arete“ (= Tugend, Tapferkeit), „Mneme“ (= Erinnerung), „Pistis“ (= Glauben) und „Sophia“ (= Weisheit).   Über dieser Szene erhebt sich eine Berglandschaft, auf deren Spitze Zeus thront; weiter unten steht Apollon mit der Leier. Die beiden Götter sind von Musen umgeben, die von ihrer Mutter Mnemosyne, die vor Zeus steht, angeführt werden.   Das Relief ist von einem Bildhauer signiert, Archelaos aus Priene. Es wurde vielleicht aus einem hellenistischen Homerheiligtum im griechischen Osten des Mittelmeerraumes nach Italien gebracht.

Eine Wandmalerei im Haus der Epigramme in Pompeji illustriert eine Anekdote, die in einer Schrift über einen Wettbewerb zwischen Homer und Hesiod überliefert ist. Danach soll der greise Dichter Homer am Strand der Insel Ios Fischern begegnet sein und sie gefragt haben, was sie gefangen hätten. Die Fischer antworteten mit dem Rätsel, das auf dem Wandbild notiert ist:   „Was wir gefangen haben, haben wir fortgeworfen, was wir nicht gefangen haben, tragen wir mit uns“. [L]   Der alte Homer konnte dieses Rätsel nicht lösen und starb drei Tage später auf Ios, wo Besuchern in späteren Zeiten sein Grab gezeigt wurde.

Sammlung E-learning Quellen Literatur
 Weise und Lehrer Hesiod
Fiktive Porträts
5. Jahrhundert Redner & Dichter
Pausanias V, 26, 2
Anthologia Graeca II 322ff. Cedrenus, Historiarum compendium p. 369D/I 648
Aelian, Varia Historia XIII, 22 Pausanias IV, 33, 7
Gisela M. A. Richter: The Portraits Of The Greeks. Abridged Edition. Phaidon Press Limited, Oxford, 1984, S. 139ff.
Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike, Band 5, Metzler, Stuttgart, 1998