Einführung

Porträtbegriff und Fragestellungen

Die Erwartungen heutiger Betrachter an ein Porträt sind durch die lange Geschichte des Bildnisses in der nachantiken Kunst geprägt. Diese Geschichte hat dazu geführt, dass unter einem ‚Porträt‘ (Synonym ‚Bildnis‘) heute die Darstellung eines bestimmten sterblichen Menschen verstanden wird, die beabsichtigt, diesen als Individuum zu kennzeichnen. Im Gegensatz dazu steht der Begriff ‚Bild‘ (auch ‚Abbild‘), der sich auf die Darstellung beliebiger Gegenstände beziehen kann.  

Die griechische und römische Antike kannte diese begriffliche Unterscheidung nicht. Sie verwendete für Porträts dieselben Bezeichnungen wie für Darstellungen von Göttern, aber auch von Gegenständen: auf griechisch eikon, auf lateinisch imago und simulacrum. Dennoch hat es in der Antike das Phänomen Porträt im modernen Sinne gegeben. Die Auseinandersetzung mit ihm erfordert jedoch eine Diskussion darüber, welcher Porträtbegriff sinnvollerweise verwendet werden sollte.  

Enger Porträtbegriff  

Die Begriffe ‚Porträt‘ und ‚Bildnis‘ bezeichnen die Darstellung eines bestimmten Menschen. Unserer Zeit und Kultur ist dabei die Vorstellung, dass zwischen dem Porträt und seinem Vorbild möglichst große Ähnlichkeit bestehen muss, selbstverständlich, wobei zwei Arten der Ähnlichkeit möglich sind.  

− Die eine ist eine möglichst gelungene Ähnlichkeit im Äußeren.  

− Zum anderen können künstlerische Porträts und deutende Darstellungen auf äußerliche Ähnlichkeit verzichten. Diese ‚entdecken‘ vielmehr das Wesen des Dargestellten oder demaskieren es. Sie versuchen eine authentische Wiedergabe des wahren Kerns eines Individuums im Bild.  

Beide Arten des Porträts zielen jedoch darauf, die Dargestellten als unverwechselbare Persönlichkeit zu kennzeichnen, ein Gedanke, der sich in der abendländischen Kunst seit dem Spätmittelalter und der Renaissance durchsetzte und lange mit der kulturgeschichtlichen ‚Entdeckung des Individuums‘ verbunden wurde.  

Weiter Porträtbegriff

Neben diesen beiden Varianten eines engen Porträtbegriffs gibt es den weiten Porträtbegriff. Er wird fast ausschließlich in der Wissenschaft verwendet. Er bezeichnet als Porträt jede Darstellung, die einen bestimmten Menschen wiedergeben soll, unabhängig von der spezifischen Gestaltung. Dieser Porträtbegriff umfasst auch die nicht individualisierten Darstellungen bestimmter Menschen. Beispiele dafür sind die untereinander gleichartigen athenischen Grabstatuen von Männern aus dem 6. Jahrhundert v.Chr., die durch die Inschriften auf ihren Basen als Individuen bezeichnet sind. Für diese Darstellungen wurde der Begriff ‚Namensporträt‘ vorgeschlagen. Das Epigramm auf der Basis der abgebildeten Statue aus Anavyssos spricht den Vorbeigehenden mit den Worten an: ‚Bleibe stehen und beweine den Kroisos beim Grabmal des Toten, den in der vordersten Schlachtreihe der wilde Ares vernichtete‘.  

Aus dem Mittelalter sind ähnlich unpersönlich gestaltete Darstellungen von Herrschern bekannt, die durch beigeschriebene Namen, Insignien und die Kontexte identifiziert sind, so etwa Otto III (983−1002 n.Chr.) in einem in München aufbewahrten Evangeliar aus seiner Lebenszeit.  

Ohne Kontext oder Inschrift wären diese Bildnisse lediglich allgemeine Bilder von Königen. Entsprechend könnten die archaischen Statuen auch anonymer Schmuck eines Heiligtums oder sogar Götterbilder sein.   Auf den ersten Blick erscheint der weite Porträtbegriff unnötig spitzfindig. Allein der enge Begriff scheint nützlich, weil nur er den kategorialen Unterschied zwischen dem normierten Bild eines Menschen und dem einer unverwechselbaren Einzelpersönlichkeit erfasst. Die Nützlichkeit des engen Porträtbegriffs wird auch nicht dadurch eingeschränkt, dass die Ähnlichkeit zwischen Abbild und dargestellter Person (‚Wiedererkennbarkeit‘) für vergangene Zeiten nicht mehr überprüft werden kann. Denn auch wenn wir keine Vorstellung vom tatsächlichen Aussehen einer dargestellten Person haben, können wir erkennen, ob ein Bildnis im Vergleich zu anderen, die in seinem Umfeld entstanden sind, Züge enthält, die von der Norm abweichen, vielleicht sogar einzigartig sind und die Darstellung unverwechselbar machen. Besser als der Begriff der Porträtähnlichkeit ist daher der Begriff der Individualisierung eines Bildnisses zu verwenden, der das Augenmerk stärker vom Darstellungsgegenstand auf die Darstellung selbst richtet.

Bildnisse und das Problem der Ähnlichkeit

Der Nutzen des weiten Porträtbegriffs für die Erforschung antiker Porträts

In der griechisch-römischen Antike, wie auch beim mittelalterlichen Bildnis, zeigt sich die Problematik des engen Porträtbegriffs besonders stark. Ein Grund dafür ist, dass es bei den Griechen Bildnisse gab, die − wie etwa die athenischen Grabstatuen des 6. Jahrhunderts v.Chr. − auf individuelle Züge völlig verzichteten. Ihnen würde man mit dem Begriff des ‚Namensporträts‘ gerecht. Aber diese Bezeichnung tendiert dazu, die positiven Aussagen zu verdecken, die in dieser bewusst überpersönlichen Darstellungsform lagen. Die Grabstatuen junger Männer drückten durch ihre Nacktheit aus, dass diese trainierte und einsatzfähige Körper hatten und demzufolge nicht zu denen gehörten, die ihren Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit verdienen mussten. Auch das gepflegte lange Haar signalisierte, dass sie einer Bevölkerungsschicht angehörten, die sich der Muße widmen konnte.

Wichtiger für die Frage nach dem angemessenen Porträtbegriff aber ist, dass sich die beiden Prinzipien Normierung und Individualisierung in der griechischen Kultur lange Zeit nicht ausschlossen; das eine löste das andere in der Gestaltung von Porträts auch nicht ab. Das normentsprechende Bildnis lebte vielmehr noch lange nach dem Aufkommen des individualisierten Porträts weiter. Außerdem sind viele Porträts erhalten, die gleichermaßen normhafte und individualisierende Elemente enthalten. Die Frage, ob in diesen Porträts schon (oder ggf. noch) Porträtzüge wiedergegeben sind, würde die Aussage der Porträts verkürzen und den positiven Aussagen, die in den normierenden Zügen enthalten sind, nicht gerecht. Der verengte Blick würde also an den Aussageabsichten der Porträts vorbeigehen, die beide Kategorien mischen.

Individuum und Norm

Obwohl im 5. Jahrhunderts v.Chr. mit dem Porträts des Themistokles schlagartig ein in fast jeder Hinsicht individualisiertes Bildnis auftrat, gab es danach bis zum Ende der hellenistischen Zeit immer nebeneinander individualisierte und nicht individualisierte Bildnisse sterblicher Menschen; dazu Zwischenstufen, bei denen individualisierte und nicht individualisierte Züge kombiniert sind:

Die namentlich bezeichneten, aber sonst nicht individualisierten Verstorbenen auf den athenischen Grabreliefs des 4.Jhs. sind z.B. in drei Altersstufen dargestellt, als bartloser ‚Jüngling‘, als erwachsener bärtiger Mann mit kurzem Haar und als Greis mit Bart und langem Haar, jedoch ohne Alterszüge.

Ein Beispiel ist das wohl unmittelbar nach seinem Tod (271/270 v.Chr.) in Athen geschaffene Porträt des Philosophen Epikur. Verglichen mit dem Kopf eines Mannes mittleren Alters von einem athenischen Grabmonument des späten 4.Jhs., heute in Berlin, wiederholt die gesamte Grundform des Epikurporträts das unpersönliche Modell, das der Bildhauer des Berliner Kopfes benutzte: die schmale gelängte Kopfform insgesamt, den Vorbau der Stirnmitte und ihre Querteilung, die tief gelagerten Augen, grundsätzlich die Haargestaltung, bei der die Haarenden über der Stirn bewegte Zipfel bilden und den großflockigen Bart. Die individuelle Kennzeichnung Epikurs liegt vor allem in den tiefen Falten auf der Stirn und um die Augen. Man kann sich gut vorstellen, wie der Bildhauer diese in ein Grundmodell in der Art des Berliner Kopfes eingetragen bzw. ihm aufgelegt hat.

Noch stärker muß die Ähnlichkeit des Porträts des Metrodor, dem Meisterschüler Epikurs (gestorben 278/277 v.Chr.) mit diesem Berliner Kopf gewesen sein. Allerdings muß man bei der römischen Kopie des Metrodorporträts die Vereinfachung durch den Kopienfilter abrechnen. Dabei fällt auf, dass hier das stärker bewegte Stirnhaar und der um die Mundwinkel gebogene Oberlippenbart dem Kopf vom Grabmonument noch ähnlicher sind als beim Epikur.

Eine animierte Sequenz kann zeigen, dass die individualisierenden Züge des Philosophenbildnisses in eine Grundform eingebracht wurden, die ganz ähnlich auch für die kaum individualisierten Köpfe athenischer Grabreliefs verwendet wurde.

Auf der Basis des engen Porträtbegriffs wäre nun zu schließen, das Porträt des Epikur sei als wirkliches Porträt zu bezeichnen, das des Metrodor aber nicht. Doch ginge man damit am Kern der Sache vorbei. In diesem wie in vielen anderen Fällen erweist es sich als notwendig, den weiten Porträtbegriff zu benutzen. Man kann sich dann auf die gewollte Ähnlichkeit zwischen den Porträts von Philosophen einer Schule konzentrieren, auf ihr Verhältnis zu den Porträts der Vertreter anderer Philosophenschulen und auf ihre offenbar bewusste Pflege der Tradition, die in den typenverpflichteten Bildnissen zum Ausdruck kommt. Näheres zu den angesprochenen Themenkreisen wird hier in den Kapiteln zum griechischen Porträt ausgeführt.

Zeitgesicht

Überwiegen bei diesen Porträts die normentsprechenden Züge gegenüber den individuellen, gibt es im römischen Reich das Phänomen, dass individuelle Gesichter zu Kollektiven werden: Die Bewohner des römischen Reiches gleichen ihre Porträts bis in individuelle Züge hinein denjenigen der Kaiser an, wie der Vergleich eines Porträts in der Sammlung Wallmoden mit dem des Philippus Arabs (244−48 n.Chr.) zeigt.

Abstraktion und Entindividualisierung

Schließlich lässt sich unter dem Gesichtspunkt individueller Gestaltung auch nur wenig über das abstrahierte, fast kastenförmige Porträt des Kaisers Probus aussagen, das eindeutig individuell gekennzeichnet ist, bei dem die abstrakten Formen jedoch einen wesentlichen Teil der Aussage bilden.

Die Benutzung eines engen Porträtbegriffs, in dessen Zentrum die Existenz oder das Fehlen individueller Züge im Vordergrund stehen, verstellt in der Antike und generell einen wesentlichen Anteil der Bildnisaussagen. Deshalb ist die Benutzung eines weiten Porträtbegriffs zu empfehlen, der die gemeinsame Interpretation der individualisierenden und nicht individualisierenden Elemente erlaubt.

Fragestellungen in der älteren Porträtforschung

Seit dem 19. Jahrhundert nahmen systematische Sammlungen erhaltener Porträts und ihrer Typen zu, es kam die kritische Sichtung von Kopien und die Frage nach ihren Vorbildern auf. Dennoch war, wie in den vorausliegenden Jahrhunderten, die schlichte Frage nach dem Aussehen der berühmten Männer der Vergangenheit vorherrschend − zwischen dem Dargestellten und der Darstellung wurde wenig unterschieden.

Im späten 19. Jahrhundert überwand die Forschung das Winckelmannsche Urteil, dass die römische Kunst eine Verfallsphase der griechischen sei und schrieb den Römern eigenständige, im Volk verankerte künstlerische Neigungen zu. Die griechischen und römischen Porträts wurden in dieser Forschungsrichtung, die mit Modifikationen bis zum zweiten Weltkrieg einflussreich war, Zeugnisse für die geringe Neigung der Griechen zum individualisierten Porträt und für eine römische Neigung zum Realismus. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand eine intensive Diskussion über den Zeitpunkt der Einführung des individualisierten Bildnisses bei den Griechen. Zur selben Zeit begann man, Einzelporträts aus spezifischen Richtungen des eigenen zeitgenössischen Porträtverständnisses zu deuten, die jedoch alle dem engen Porträtbegriff verpflichtet waren:

Im Gefolge der Physiognomik des 18. Jahrhunderts deutete man sie als Zeugnisse des Charakters der dargestellten Personen; im Zuge der aufkommenden Psychologie suchte man sie als Studien innerer seelischer Vorgänge zu verstehen. Im Gefolge mancher Porträtströmungen des Expressionismus hingegen sah man in ihnen den Ausdruck von Zeitgefühlen, etwa vom Leiden an der Krisenzeit in den Porträts des 3. Jahrhunderts n.Chr.

Neuere Ansätze der Porträtforschung

Die politischen Veränderungen der sechziger Jahre ließen ein breites Interesse an den politischen Hintergründen und gesellschaftlichen Bedingtheiten von Kunstwerken entstehen. Diese Interessen haben sich stark auf die Fragen ausgewirkt, die an das Porträt gestellt wurden. Besonders intensiv wurde die römische Kunst und die römischen Porträts erforscht, die wegen ihrer öffentlich-politischen Funktionen für diese Fragen besonders geeignet schienen. Doch erstreckte sich die neue Erforschung auch auf das ungleich schwerer zu fassende griechische Porträt. Dieses steht heute mehr im Zentrum des Interesses als das inzwischen besser erforschte römische.

Die Fragen, die seitdem gestellt wurden, betreffen einerseits die Funktionen und Kontexte, in denen Porträts verwendet wurden, die Praxis unbewusster oder bewusster Gestaltung, aufgrund kollektiver Wertvorstellungen oder gezielter, auf eine Einzelsituation bezogener Aussagen, die Programmatik hellenistischer Königs- und römischer Kaiserporträts, das Verhältnis von Kaiser- und Privatporträt in den unterschiedlichen politischen Systemen des Prinzipats und des spätantiken Dominats, die unterschiedliche Gestaltung des Verhältnisses von Kopf und Körper bei Griechen und Römern, die Formen von Porträts in Zonen von Kulturkontakten.

Diese und ähnliche Gesichtspunkte, die die Gestaltung der oft scheinbar so unmittelbar individuell wirkenden Gesichter beeinflusst haben, lassen sich im antiken Porträt auf einem eng begrenzten Feld, den Körpern und den Köpfen von Skulpturen studieren. Die Beschränkung auf die Plastik entspricht nicht völlig dem antiken Porträtwesen, das auch umfassende allegorische Gestaltungen in Malerei kannte. Gerade diese Begrenzung erlaubt es aber, verschiedene grundsätzliche Praktiken der Porträtgestaltung im Spannungsfeld zwischen kollektiver Wertvorstellung und individuellen Bedürfnissen mit großer Klarheit zu verfolgen. Darin liegt ein Reiz des Studiums antiker Porträts. Es gibt zugleich Anregungen, über die Formen unserer Selbststilisierungen nachzudenken.