Vorbild & Kopie

Die schriftliche und die archäologische Überlieferung antiker Porträts gehen stark auseinander: Die zahlreichen Nachrichten bei antiken Schriftstellern beziehen sich meist auf berühmte Werke an herausragenden Aufstellungsorten, die fast alle zerstört wurden. In archäologischen Funden sind uns dagegen meist Porträts erhalten, die zu unbedeutend waren, als dass sie je in der antiken Literatur erwähnt worden wären.

Die Porträtforschung befindet sich darum in einem Dilemma. Wie kann man zu einer angemessenen Beurteilung der vorhandenen Porträts gelangen, wenn die vermutlich maßgebenden Werke verloren sind? Bei der Beschäftigung mit den antiken Denkmälern eröffnen sich dazu einige Wege:  

− Antike Porträts folgen handwerklichen und ikonographischen Traditionen. Es ist nicht zu erkennen, dass die literarisch erwähnten Werke von diesen Traditionen signifikant abwichen; obwohl einige von ihnen wahrscheinlich von überlegener Qualität waren.  

− Berühmte Werke regten nicht nur schriftliche Erwähnungen an, sondern auch Nachahmungen in der bildenden Kunst. Überzeugende neue Entwürfe wurden in das Repertoire weniger einfallsreicher Künstler übernommen; später entstanden sogar Kopien, bei denen der Einsatz mechanischer Hilfsmittel eine möglichst getreue Wiedergabe des Vorbildes gewährleisten sollte.  

In diesem Kapitel werden die unterschiedlichen Bedingungen für die Verbreitung von Porträts in griechischer und römischer Zeit betrachtet:  

− Griechische Porträts unterlagen bis in hellenistische Zeit starken typologischen Bindungen. Die großen Serien von Grabdenkmälern für die Bürger griechischer Städte variieren stets nur wenige Typen. Daraus ergibt sich ein weitgehend homogenes Panorama, aus dem nur wenige individualisierte Lösungen herausragen. Dennoch wird man z.B. bei den immer wiederkehrenden manteltragenden Männern nicht von Kopien sprechen, denn bei diesen nicht individualisierten, typengebundenen Bildnissen stellt sich die Alternative Kopie oder Neuschöpfung erst gar nicht.  

− Die meisten heute bekannten antiken Porträts sind Kopien. Die Vorbilder der Kopien griechischer Porträts sind oft mehrere Jahrhunderte zuvor entstanden. Offizielle Porträts römischer Herrscher wurden in Serien produziert, Entwurf und Kopie liegen hier zeitlich meist nicht weit auseinander.  

Nach dem gleichen Verfahren, mit dem Kaiserporträts vervielfältigt wurden, wurde auch die Nachfrage nach Bildnissen von griechischen Dichtern, Philosophen und Staatsmännern der klassischen und hellenistischen Zeit mit Kopien bedient. Diese Bildnisse waren als Einzelwerke aufgestellt worden, bei deren Entwurf niemand an die Möglichkeit von Kopien gedacht hatte.  

Die römischen Kopisten arbeiteten allerdings immer im Stil ihrer eigenen Zeit. Die Arbeitsweise einer weit zurückliegenden Epoche wurde von römischen Kopisten nicht wiederaufgegriffen, sodass die Oberflächenbehandlung den jeweils aktuellen Stand der Bildhauertechnik wiedergibt. Hinzu kamen noch andere Veränderungen, z. B. in der Ausrichtung, wenn nur der Kopf kopiert und auf einer Herme montiert wurde.   Doch verdanken wir dieser römischen Praxis die Porträts berühmter Griechen, deren Originale sämtlich verloren sind. Die Einschränkungen, die diese Situation für unsere Kenntnis griechischer Porträts bedeutet, sind allerdings bei jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihnen zu berücksichtigen.

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 Vorbild & Kopie: griechisch  

− Für die offiziellen Porträts römischer Kaiser wurden spätestens zu ihrem Regierungsantritt Prototypen geschaffen, die möglichst schnell vervielfältigt und im ganzen Reich verbreitet werden sollten. Denn Porträts des regierenden Kaisers wurden überall dort gebraucht, wo sie stellvertretend für den Kaiser bei offiziellen Akten anwesend sein mussten. Die Aufstellung eines Kaiserporträts war auch sonst ein Akt der Loyalität.  

Die Künstler, die die Prototypen offizieller Kaiserporträts entwarfen, wussten, dass sie in verschiedenen Formaten und in Verbindung mit verschiedenen Körpern oder Büsten verwendet werden würden. Sie konnten die Porträts entsprechend gestalten. Aber auch Bildhauer, die Kopien ausführten, passten die Vorgaben ihrem Auftrag entsprechend an, z. B. durch die Zufügung von Attributen.  

Ohne die effiziente Organisation, die die Verbreitung von Kaiserbildnissen in Form verlässlicher Kopien von Prototypen ermöglichte, würden uns die meisten Grundlagen für die Erforschung antiker Porträts fehlen: Es gäbe keine Kopien und damit keine Möglichkeit der Benennung durch Vergleich unbenannter mit benannten Porträts. Darum ist ein Verständnis dieses Prozesses grundlegend für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit antiken Porträts.  

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