Fiktive und retrospektive Porträts

Beschreibungen antiker Porträts gehen oft unmerklich in eine Deutung über, die auch die Person des Dargestellten einschließt. Wie in den einleitenden Abschnitten ausgeführt, dient dieses Vorgehen nur dann dem Verständnis, wenn berücksichtigt wird, dass Porträts nur diejenigen Aussagen abzulesen sind, die von Auftraggebern und Porträtierten gewollt waren. Porträts waren grundsätzlich ehrend gemeint und hoben darum nur positive Eigenschaften hervor. Wenn der Porträtierte direkten Einfluss auf sein Bildnis hatte, darf man von einer Form der Selbstdarstellung sprechen. Wenn ein Porträt auffallende individuelle Züge hat, drängt sich zudem immer die Vermutung auf, der Künstler habe sie unter dem Eindruck des tatsächlichen Aussehens des Porträtierten wiedergegeben. Es gab jedoch auch Porträts, auf die die Dargestellten keinen Einfluss nehmen konnten.

Eine eigene Perspektive auf das antike Verständnis von Porträts eröffnen einige Bildnisse, die zwei Dinge gemeinsam haben: Sie wurden in der modernen Porträtforschung als besonders eindringliche Charakterstudien beschrieben und sie sind erst lange nach dem Tod der Porträtierten entworfen worden.

Homer wurde in der gesamten Antike als Begründer der griechischen Literatur verehrt. So entstand das Bedürfnis, ihn mit Porträts zu ehren. Doch waren in der Entstehungszeit von Ilias und Odyssee Bildnisse sterblicher Menschen noch nicht üblich, die man hätte kopieren können. Die Nachrichten zur Person Homers sind zudem so unsicher, dass heute begründete Zweifel an der Existenz dieses Autors als historische Person bestehen. Mit gesicherten Nachrichten zu Homers Aussehen ist demnach nicht zu rechnen. Allerdings gab es Anekdoten, denen zufolge Homer ein blinder Sänger war. Diese Vorstellung wurde umgesetzt, als man daranging, Homerporträts zu entwerfen.

Schon in frühklassischer Zeit, im 5. Jahrhundert v.Chr. entstand ein erstes Porträt, das in römischer Zeit kopiert wurde und deshalb in mehreren Repliken bekannt ist. Die Göttinger Sammlung besitzt den Abguss eines Exemplars in München. Es zeigt Homer als blinden Greis mit geschlossenen Augen; die Lider treffen über der Mitte der Augäpfel aufeinander. Das hohe Alter des Dichters wird mit sparsamen Mitteln dargestellt. Das Gesicht ist leicht eingefallen und von Altersfalten gezeichnet. Bart und halblanges Haar gehören zum gewohnten Bild eines Greises in klassischer Zeit. Ungewöhnlich ist am Porträt des Homer die Stirnglatze, die von sorgfältig darübergelegten und über der Stirnmitte verknoteten Haaren verdeckt wird. Trotz der geschlossenen Augen ist der Ausdruck des Bildnisses konzentriert. Hinzu kommt der leicht geöffnete Mund, der als besonderes Charakteristikum verstanden werden kann. Auf diese Weise erscheint Homer als inspirierter Sänger.

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 5. Jahrhundert v.Chr.  
„Ihr seid doch alle schon einmal nach Salamis hinübergefahren und habt dort die Statue des Solon gesehen. Ihr könnt also selbst bezeugen, dass Solon in dieser Statue auf der Agora von Salamis den Arm unter dem Mantel verborgen hält. Diese Statue aber ist nicht nur eine Erinnerung, sondern eine genaue Wiedergabe der Haltung, in der er tatsächlich vor der attischen Volksversammlung aufgetreten ist.“   Aischin. Tim. 25   
„Leute, die in Salamis leben, berichten mir, dass diese Statue noch keine 50 Jahre alt ist. Seit der Zeit des Solon sind aber ungefähr 240 Jahre vergangen, so dass nicht einmal der Großvater des Künstlers, der das schema der Statue entworfen hat, in Solons Zeit gelebt haben kann.“   Demosth. de falsa leg. 251

Bezeichnenderweise gab es eine Neuauflage des Homerporträts in hellenistischer Zeit, die ebenfalls in römischen Kopien verbreitet wurde. Schon daraus ist wohl zu schließen, dass in der Antike der fiktive Charakter des Homerporträts bewusst war. Die Frage, ob ein Porträt postum entstanden und deshalb fiktiv war, spielte bei der Betrachtung in der Antike durchaus eine Rolle. Für das Porträt des Solon wird dies durch einen Wortwechsel zwischen Demosthenes und Aischines bezeugt.  

Das Porträt Homers in seiner Neufassung aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. weist die pathetischen Züge des hohen Hellenismus auf. In den aufgewühlten Haare liegt eine Wulstbinde, vielleicht als Kennzeichen eines Heros, wie schon beim zuvor betrachteten Porträt aus dem 5. Jahrhundert v.Chr. Unter der Binde kommen nur wenige Haarfransen über der Stirn hervor, an den Schläfen weicht der Haaransatz zurück. Stirn und Wangen sind von Altersfalten zerfurcht.

Der Mund des Dichters ist auch bei diesem Bildnis leicht geöffnet. Die Blindheit Homers wird jedoch nicht mehr durch geschlossene Augen angezeigt, sondern subtiler: Die weit über die ganz flachen und kleinen Augäpfel gezogenen Lider vermitteln den Eindruck blickloser Augen, die ziellos ins Leere weisen.  

Die Mimik und die Wendung des Gesichts nach oben ergänzen das Bild eines Dichters, der trotz oder gerade wegen seiner Blindheit von Visionen erfüllt ist und auf eine innere Stimme zu lauschen scheint.  

Blindheit wurde weder in klassischer noch in hellenistischer Zeit bei Porträts gewöhnlicher Zeitgenossen dargestellt, wie auch sonst Krankheit kein Darstellungsthema ist. Nur im außergewöhnlichen Fall des Homer ist Blindheit kein Makel, den es im Bild zu unterdrücken gilt, sondern ein positiv verstandenes Merkmal, das Homer in die Nähe berühmter Sänger, Weiser und Seher des Mythos rückt, die ebenfalls blind waren.  

Die Gestaltung des Homerporträts eröffnete schon dem Bildhauer des 5. Jahrhunderts v.Chr. Freiräume, die bei Porträts von Zeitgenossen nicht gegeben waren. Denn diese mussten sich den Gesetzen und Regeln der polis fügen, die auf Gleichheit der Bürger zielten und allzu individuelle Selbstdarstellung ablehnten. In hellenistischer Zeit gab es zwar ein breiteres Spektrum möglicher Rollenbilder, die sich im Porträt durch unterschiedliche Formen ausdrückten, doch der Vergleich des Homerporträts mit den Bildnissen hellenistischer Dichter und Philosophen zeigt, dass diese immer noch zurückhaltender und am Bild des respektablen Bürgers ihrer Zeit orientiert sind.

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 Redner und DichterAischin. Tim. 25 Demosth. de falsa leg. 251 

‚Pseudo-Seneca‘: Hesiodos?

Ein bisher noch nicht durch eine mitgefundene Inschrift identifiziertes Porträt, das in über 30 Kopien überliefert ist, stellt offenbar einen weiteren berühmten Dichter dar. Diese Feststellung ist möglich, weil eine der Repliken in einer Doppelherme mit einem Porträt des Menander verbunden ist. Solche Zusammenstellungen bildeten in römischer Zeit sinnvolle Paare, also ist wohl auch der Unbekannte ein Dichter.  

Das Porträt trägt in der archäologischen Literatur den Spitznamen ‚Pseudo-Seneca‘, weil es in der frühen Neuzeit als Bildnis dieses römischen Philosophen galt. Spätestens seit Bekanntwerden eines inschriftlich benannten Senecaporträts ist dieser Benennungsversuch hinfällig.  

Doch ist interessant, dass der Vorschlag aufgrund einer Verbindung des Porträts mit einer Fischerstatue gemacht wurde, die ebenfalls fälschlich als Senecaporträt galt. Bei diesem Vergleich scheint immerhin eine wesentliche Eigenart des Porträts erfasst zu sein: Der Kopf teilt tatsächlich Merkmale mit Figuren des bukolischen Genre. In der Göttinger Sammlung kann der Kopf eines Fischers aus Aphrodisias verglichen werden.  

Der bronzene Kopf des Dichters in Neapel aus der Villa dei Papiri ist die differenzierteste Kopie. Sie stellt einen stark gealterten Mann dar. Der Altersverfall malt sich in den tiefen Falten des Gesichtes und des schildkrötenartigen Halses. Dies ist kein würdiger, schöner Greis wie Homer: Die Haare stehen in Büscheln ab, sie wirken ungekämmt und ungepflegt. Der Bart ist struppig und sprießt in unregelmäßigen Flocken, zwischen denen kahle Stellen bleiben.  

Das struppige Erscheinungsbild teilt das Porträt mit Bildern von Fischern und Hirten. Der Fischer aus Aphrodisias trägt ähnlich schüttere, ungleichmäßig wachsende Haare und Bart. In der antiken Literatur werden diese Merkmale negativ gewertet, als Zeichen eines inferioren Wesens. Beim Fischer treten andere abwertende Merkmale hinzu, z.B. der blöde starrende Gesichtsausdruck mit leicht schielenden Augen und offenem Mund.

Das Porträt in Neapel vermittelt allerdings keineswegs einen blöden Eindruck. Im Gegenteil, der Kopf ist energisch bewegt, sein Ausdruck konzentriert. Diese Eigenschaften kennen wir von hellenistischen Philosophenporträts, bei denen in ähnlicher Weise die Hinfälligkeit des Alters mit dem lebhaften Geist kontrastiert wird, der in diesem schwachen Körper wohnt und Bewunderung weckt. Beim Entwurf des hier betrachteten Porträts ging man ein größeres Wagnis ein. Alterszüge allein konnten als Zeichen von Erfahrung und Weisheit als positive Merkmale in ein Ehrenbildnis integriert werden. Doch einer Darstellung des Alters, das offenbar von einem Leben in Armut und Entbehrung gekennzeichnet ist, war schwer etwas Positives abzugewinnen. Dennoch beeindruckt das Porträt durch seinen intensiven Ausdruck und nötigt dem Betrachter Respekt ab.

Die neueren Benennungsvorschläge gehen von diesen exzeptionellen Merkmalen des Porträts aus. Ein Porträt, das einerseits von Leidenschaft erfüllt scheint, andererseits bäurische Züge trägt, passt wohl am besten zu Hesiod. Neben Homer ist er der zweite große Dichter der frühen griechischen Literatur. Über sein Leben ist aus seinen eigenen Werken zu erfahren, dass er die harten Seiten des Landlebens als Hirte und Bauer selbst erlebt hatte. Im Gegensatz zu Homer, dem Sänger adligen Lebens, galt Hesiod in der Antike als Dichter der Bauern. Bei einem retrospektiven Bildnis, das sich auf dieses literarische Bild stützt, erscheint die Vereinigung gegensätzlicher Züge in diesem Porträt einleuchtend.

Stärker noch als beim Bildnis Homers wird an dem mutmaßlichen Porträt Hesiods deutlich, dass es anderen Regeln gehorcht als die Darstellung beliebiger Zeitgenossen: Auftraggeber und Empfänger einer Ehrung hätten es sich wohl vehement verbeten, eindeutig negativ konnotierte Merkmale in ein Porträt einzubringen.

Erst der zeitliche Abstand zum Alltagsgeschäft des Austauschs von Leistungen und Ehrungen ermöglichte eine Abweichung von der geltenden Norm, die nur eine enge Auswahl von darstellungswürdigen Zügen zuließ. So konnten Aspekte thematisiert werden, die den Dargestellten nach antikem Verständnis umfassend charakterisierten: Was sonst eine schwer erträgliche Provokation gewesen wäre, vervollständigte das Bild eines verehrten Dichters der Frühzeit zum Porträt eines herausragenden, unverwechselbaren Individuums.

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 Redner und Dichter  

Ein ähnlich offensiver Umgang mit negativ besetzten Merkmalen, die positiv umgedeutet wurden, lässt sich am Porträt des Sokrates beobachten. Zeitgenossen des Sokrates berichten, dass er außergewöhnlich hässlich war. Genannt werden ein flaches, breites Gesicht mit vorquellenden Augen, breiter Mund mit wulstigen Lippen und eine Stirnglatze; dieser Kopf saß zudem auf einem gedrungenen, dickbäuchigen Körper. All dies waren eklatante Abweichungen vom Menschenbild der kalokagathia. Das Aussehen des Sokrates wurde mit dem der wilden Kerle der griechischen Mythologie verglichen, Satyrn oder Silenen. Silene haben Pferdeohren und -schwänze sowie einen kugeligen, teils kahlen Kopf, wulstige Lippen, eine Stupsnase und runde Augen.

Der Vergleich von Sokrates und Silenen bot Ansatzpunkte für eine positive Umdeutung der eigentlich abwertenden physiognomischen Merkmale. Denn Silene waren im Mythos trotz ihres wilden Aussehens auch weise Lehrer. Zu Lebzeiten spielte das Aussehen Sokrates‘ eine Rolle in den polemischen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des Philosophen. Je nach Ausdeutung konnte sein Aussehen als Argument für oder gegen die Integrität seines Charakters verwendet werden. Durch den Silensvergleich war das Bild des Sokrates gewissermaßen literarisch fixiert: Auch wer Sokrates nie gesehen hatte, konnte sich eine Vorstellung nach dem Vorbild der weit verbreiteten Silensbilder machen.

Dieser Umstand spielte eine Rolle, als Sokrates lange nach Vollstreckung seines Todesurteils rehabilitiert wurde. Dazu gehörte, dass eine Porträtstatue errichtet wurde, mindestens zehn Jahre nach seinem Tod 399 v.Chr. Es entstand ein Porträt, das die Züge eines Silens mit individuellen Zügen verbindet. Sokrates ist in diesen Bildnissen mit Kopf-, Augen- und Mundform eines Silens dargestellt. Sie sind jedoch mit dem sorgfältig frisierten Haar und Bart eines würdigen Mannes kombiniert, die wilden Züge des Mischwesens fehlen.

Dennoch dürfte das Porträt provokant gewirkt haben: Das Verhalten des Sokrates wurde zu seinen Lebzeiten als exzentrisch betrachtet und brachte ihm viele Feinde ein. Eine entsprechende öffentliche Darstellung wäre darum vor seinem Tod nicht möglich gewesen. Es stellt sich die Frage, auf welcher Basis der Künstler dieses Bildnis entwarf: Wir kennen schriftliche Zeugnisse, zudem lebten noch Freunde des Sokrates, die ihn aus der Erinnerung beschreiben konnten. Aber gab es Skizzen oder ähnliches, die sein Aussehen zu Lebzeiten festhielten? Wenn es keine gab und der Künstler auch keine eigenen Erinnerungen verarbeiten konnte, ist das Porträt des Sokrates kaum weniger retrospektiv konstruiert als die zuvor betrachteten Porträts von Dichtern einer fernen Vergangenheit. Dafür spricht die Stilisierung in enger Anlehnung an Silensbilder. In dieser Mischung der Genres ist das Sokratesporträt ein Vorläufer des mutmaßlichen Porträts des Hesiod.

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 4. Jahrhundert v.Chr.
Stilisierungen
  

Demosthenes

Die in römischen Kopien überlieferte Statue des Demosthenes entstand erst 42 Jahre nach seinem Tod; sie wurde 280 v.Chr. auf der Agora von Athen errichtet, ein Werk des Polyeuktos. Ähnlich wie bei Sokrates war diese Statue mit einer postumen Rehabilitation verbunden, nachdem die antimakedonische Partei unter Führung eines Neffen des Demosthenes, Demochares, die Führung übernommen hatte. Demosthenes war im 4. Jahrhundert v.Chr. in Athen Führer der antimakedonischen Partei, seine Reden und politischen Anstrengungen richteten sich erst gegen Philipp II., dann gegen dessen Sohn, Alexander d. Gr. Auf Druck Makedoniens musste er 322 v.Chr. aus Athen fliehen. Es gelang ihm jedoch nicht, sich vor seinen Verfolgern in Sicherheit zu bringen, so dass er schließlich Selbstmord beging.

Mehrere Erwähnungen der Statue in der antiken Literatur belegen, dass sie wegen ihres ungewöhnlichen Motivs und ihrer politischen Botschaft stark beachtet wurde. Die Glieder und das schlichte Gewand bilden ein Gefüge klarer Linien, die in der Mitte auf die verschränkten Hände zulaufen (am Abguss der Statue aus Kopenhagen in Göttingen nicht erhalten). Der Kopf ist gesenkt und zeigt eine ernste Miene mit zusammengezogener Stirn.

Auffallend war und ist an dieser Statue, dass sie von den gewöhnlichen Ehrenstatuen Athens abweicht.

Wie eine Statue aussieht, die den Regeln Athens in der Lebenszeit des Demosthenes entspricht, zeigt die Statue des Aischines. In den politischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit waren Aischines und Demosthenes jeweils Protagonisten der gegnerischen pro- bzw. antimakedonischen Parteien. Die Porträtstatue des Aischines trägt heitere Gelassenheit zur Schau. Die Drapierung von Chiton und Mantel, die ruhige Miene, die gepflegte Haar- und Barttracht entsprechen dem Bild, das auch die attischen Grabreliefs zahlreich wiederholen. Aischines präsentiert sich mit diesem Bildnis als vorbildlicher, wohlhabender Bürger Athens, einzig der Chiton ist ein bemerkenswert elegantes Detail.

Dagegen vermittelt die Statue des Demosthenes einen Eindruck von Anspannung und Konzentration. Das drückt sich schon in ihrem sperrigen Stand aus, hinzu kommen die verschränkten Hände und die Mimik des Gesichts mit zusammengezogenen Brauen und tiefen Stirnfalten. Die Tracht des Demosthenes fällt eher karg aus, denn unter dem Mantel fehlt der Chiton; so wird der bloße Oberkörper eines alternden Mannes sichtbar. Darin entspricht seine Statue der verbreiteten klassischen Konvention, Männer nur im Mantel, ohne Chiton darzustellen.

Zu Lebzeiten des Demosthenes wäre eine Darstellung mit so starker Mimik und Gestik nicht möglich gewesen. Denn in den politischen Kontroversen ging es immer auch darum, sich selbst als mustergültigen Bürger zu präsentieren und den Gegner als schlechten Bürger zu denunzieren. In dieser Situation war es nur sinnvoll, auch im Porträt den Gegner mit einer noch vollkommeneren Erfüllung der bürgerlichen Verhaltensnormen Athens zu übertrumpfen. Die Porträtstatue des Demosthenes ist im Vergleich geradezu polemisch in ihrer Missachtung der wohlanständigen Konventionen des athenischen Bürgerbildes. Der retrospektive Entwurf gibt ein Charakterbild des Redners und Politikers, das von der Sicht der antimakedonischen Partei bestimmt wird. Themen des Bildnisses sind wohl sein ernsthaftes Ringen um das Wohl seiner Stadt, seine Selbstbeherrschung und persönliche Bedürfnislosigkeit. So ist die Statue eine Antwort auf die Polemik seiner Gegner, die Demosthenes in allen diesen Punkten das Gegenteil vorwarfen. Paradoxerweise werden diese normhaften Qualitäten des Demosthenes als Bürger Athens in einer Form ausgedrückt, die sich von den Konventionen der Bildnisse aus seiner Lebenszeit weit entfernt.

Da das Porträt des Demosthenes keine Voraussetzungen im athenischen Porträt des 4. Jahrhunderts v.Chr. hat, ist es unwahrscheinlich, dass Polyeuktos sich bei seinem Entwurf an Skizzen oder anderen Vorarbeiten aus der Lebenszeit des Demosthenes orientierte. Als programmatischer Entwurf gehört die Porträtstatue des Demosthenes ganz in frühhellenistische Zeit. Das zufällige Erscheinungsbild eines lebenden Vorbildes wird nicht gebraucht, um ein Porträt zu schaffen, an dem sich die Qualitäten des Dargestellten ablesen lassen, und die nach antikem Verständnis deshalb das wahre Bild eines Menschen ausmachen. Darin unterscheidet sich das Bildnis des Demosthenes kaum von Porträts, die noch zu Lebzeiten der Dargestellten entstanden sind.

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Demosthenes4. Jahrhundert v.Chr. Redner und DichterPs.Plut., Vit.X orat., Demosth. 847a Plut.,Demosth. 30,5-31,1 Plut. mor. 847a 

Individualisierte Porträts waren gegenüber der großen Zahl konventioneller, nicht individualisierter Porträts stets in der Minderheit, so dass sie auf jeden Fall einen erhöhten Anspruch signalisierten. Porträts, die keine Zeitgenossen darstellten, mussten anscheinend weniger Rücksichten auf die Konventionen des jeweils geltenden Bürgerbildes nehmen. Auch Traditionen einer Dynastie oder propagandistische Rücksichten, die Königsporträts prägen können, spielen hier keine Rolle. Deshalb haben paradoxerweise gerade fiktive Porträts besonders individualisierte Züge. Es dürfte deutlich geworden sein, dass diese Individualisierung nichts mit dem wirklichen Aussehen der Dargestellten zu tun haben muss. Sie ist vielmehr ebenso ein Konstrukt wie die Darstellungen, die den jeweiligen Konventionen und Normen ihrer Zeit gehorchen. Für das Verständnis antiker Porträts sind diese Beispiele besonders interessant, weil sie zeigen, wie gezielt eine Auswahl von Merkmalen getroffen wurde, die das Image einer Person in der Öffentlichkeit ausmachten. Das Spektrum der darstellungswürdigen Aspekte ist bei diesen Porträts breiter als bei Porträts von Zeitgenossen.