Kaiserporträt und Privatporträt in der Spätantike

In der Zeit Konstantins veränderten sich die Beziehungen zwischen dem Porträt des Kaisers und denen seiner Zeitgenossen grundlegend. Ausgehend vom Porträt Konstantins (306-337 n.Chr.) entwickelte sich ein spezifisches Kaiserbild, das mit leichten Modifikationen für Jahrhunderte gültig blieb. Die Kaiser tragen in diesen Bildnissen leicht gewellte halblange Strähnenfrisuren, die vorn ins Gesicht hineingekämmt sind; sie sind bartlos, haben geringe oder keine Alterszüge und wenig mimische Bewegung. Sie wirken also distanziert, wenig berührt von menschlichem Verfall und menschlichen Affekten. Durch die Bartlosigkeit und die Frisur erscheinen sie als Nachfolger Konstantins. Im Verlaufe der Jahrhunderte nahmen manche Kaiser wieder die Mode kurzer Stoppelbärte an, manche ließen sich zumindest mit leichteren Alterszügen darstellen. Alle aber trugen die Konstantinsfrisur und waren immer signifikant vom Privatporträt unterschieden.

Die Privatporträts der Spätantike haben dagegen ohne Ausnahme realistische Formen und zeigen, dass Personen, die nicht dem Kaiserhaus angehörten, die Sitte des Tragens von Bärten in verschiedenen Formen beibehielten und andere Frisuren trugen als die Kaiser.

Das Auseinandertreten von Kaiserporträt und Privatporträt stand in direktem Zusammenhang mit der Neudefinition des Prinzipats als Monarchie. Die Tetrarchen hatten bereits begonnen, einen monarchischen Ornat und monarchische Repräsentationsformen zu benutzen. Konstantin ging auf diesem Weg weiter und nahm 326 n.Chr. das hellenistische Königsdiadem als monarchisches Insigne an. Viele Quellen berichten über die weitere Ausgestaltung von Ornat und Zeremoniell der Herrscher in den folgenden Jahrhunderten. Der Kaiser war jetzt von der Umgebung qualitativ abgehoben, und die Distanz vertiefte sich noch, als die Vorstellung sich verfestigte, der Kaiser sei der Vertreter Christi auf Erden.

Wie im Abschnitt über die spätantiken Kaiserporträts seit Konstantin dargelegt, kann das Porträt Konstantins keineswegs von Anfang an auf diese Interpretation hin angelegt gewesen sein. Es war ein jugendliches Porträt, das in besonders starkem Maße einer auch sonst sich ausbreitenden neuen klassizistischen Geschmackströmung verpflichtet war. Erst mit den Erfolgen Konstantins, mit seiner Neugestaltung des Kaisertums, seinen Reformen und schließlich mit seiner Position gegenüber der christlichen Kirche wuchs ihm und damit auch seinem Bildnis allmählich die neue Bedeutung zu.  

Eines der aussagekräftigsten Zeugnisse für diesen Bedeutungszuwachs ist die Gestaltung der Privatporträts, die aufhört, sich am Kaiserporträt zu orientieren. Wahrscheinlich haben sich die Männerporträts zunächst nicht am Porträt Konstantins orientiert, weil es anfangs eine betont jugendliche Physiognomie hatte. Die Privatporträts behielten dagegen die Alterskennzeichnung bei, wie sie in der Tetrarchie üblich war. Im selben Maße, in dem Konstantin älter wurde, muss sein Bild aber eine neue Qualität gewonnen haben, so dass es sich für nicht kaiserliche Personen nicht mehr empfahl, ihre Porträts dem des Kaisers anzugleichen.

Diese grundsätzliche Andersartigkeit des spätantiken Privatporträts im Verhältnis zum Kaiserporträt ist bisher noch wenig bekannt. Das hängt einerseits damit zusammen, dass viele konstantinische Porträts, die die Moden der vorausgehenden Zeit beibehielten, in die Zeit der Tetrarchie datiert wurden. Andererseits ist das spätantike Privatporträt bisher wenig unter diesem Aspekt studiert worden.

Einige charakteristische Privatporträts der Spätantike in der Göttinger Sammlung können diese Eigenheiten der spätantiken Porträts verdeutlichen.

Ein lebensgroßer Kopf in den Kapitolinischen Museen zeigt auf den ersten Blick die kurzstoppelige Haar- und Barttracht, wie sie in der Tetrarchie üblich war. An der Gestaltung der Kopfform fällt das schwere Untergesicht mit U-förmigem Kontur auf. Diese Proportionen und die riesigen starren Augen im Verhältnis zum betont kleinen, präzise konturierten Mund sind aber typische Gestaltungsweisen, wie man sie an den späteren Porträts Konstantins vorfindet. In diese Zeit muss auch das Porträt in den Kapitolinischen Museen gehören.  

Ähnliches gilt für ein Porträt in Kopenhagen. Seine Strähnenfrisur ähnelt der Konstantins, aber der Kopf hat betonte Alterszüge, eine ausgeprägte Mimik und einen Stoppelbart. Wiederum weist die schwere U-Form des Gesichts in die konstantinische Zeit. Auch hier lassen sich schwere Einzelformen mit späteren Konstantinsporträts vergleichen. Dazu gehören die dicken Augenbrauen und der Gegensatz zwischen den großen Augen und dem kleinen Mund mit preziös geschwungenen Lippen. Diese Beispiele müssen hier genügen, ließen sich aber leicht vermehren.

Ins späte 4. Jahrhundert oder ins frühere 5. Jahrhundert n.Chr. gehört ein Männerporträt auf vollständig erhaltener Büste in Thessaloniki. Der Dargestellte trägt eine seit dem späten 4. Jahrhundert n.Chr. verbreitete Frisur, bei der das Stirnhaar flach in die Stirn gestrichen ist, während die Locken an den Schläfen abstehen. Diese Frisur unterscheidet sich deutlich von der gleichmäßigen Strähnenfrisur der Kaiser. Dazu zeichnet sich das Porträt durch reichliche Alterszüge aus.

Ihm ist das Porträt eines jungen Mannes aus Rom in München eng verwandt. Es weist ungefähr dieselbe Frisur auf und hat einen fein geritzten Bart. Das Porträt in Thessaloniki und das in München haben zwar keine Beziehungen zu Kaiserporträts; aber trotz der geographischen Entfernung, in der sie entstanden, haben sie Elemente einer gemeinsamen Modephysiognomie. Beide haben ähnliche Kopfformen mit hohen und breiten freien Stirnen. Beide haben auch Münder mit scharf begrenzten Lippen und mit charakteristisch ähnlichen Eintiefungen in den Mundwinkeln, Augen mit einem fast geraden Unterlid und einem geschwungenen Oberlid. Sie haben so eine scheinbar individuelle Ähnlichkeit und wirken fast wie Vater und Sohn. Auf dieses Phänomen ist weiter unten zurückzukommen.

Eindrucksvolle weitere Beispiele für ‚realistische‘ Gestaltung spätantiker Porträts stammen aus der Bildhauerstadt Aphrodisias in Kleinasien, die in der Spätantike zu neuer Blüte kam, weil dort die wichtigsten Werkstätten für Konstantinopel tätig waren. Um 400 n.Chr. entstand in Aphrodisias die Statue eines Statthalters, Oikumenios, die mit ihrer Inschrift erhalten ist. Nur der Porträtkopf kann hier gezeigt werden. Oikumenios trägt dickes Lockenhaar und einen lockigen Bart, sein Gesicht ist ausgesprochen füllig. Der entspannte Ausdruck ist als Zeichen für freundliche Zugänglichkeit gedeutet worden, eine bei Mächtigen oft gerühmte Eigenschaft. Das Porträt des Provinzstatthalters von Karien, Flavius Palmatus, kann durch Inschriften in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts n.Chr. datiert werden. Palmatus trägt eine in dieser Zeit verbreitete üppige Lockenfrisur und einen Stoppelbart. Er hat ausgeprägte Gesichtsfalten und eine entschlossen, ja fast finster wirkende Mimik, die man als Strenge deuten kann. Dies ist eine der Eigenschaften, welche in den gesprächigen spätantiken Inschriften alternativ zur freundlichen Zugänglichkeit an hohen Amtsträgern gern gelobt wurden.

Die Werkstätten von Aphrodisias pflegten aber auch ausgesprochen nostalgische Rückgriffe auf ältere Epochen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist das Porträt eines vermutlich hohen Beamten, dem irgendwann im 4. Jahrhundert n.Chr. die Villa von Chiragan in der Nähe von Toulouse gehört hat. Der Dargestellte ist ausgesprochen korpulent dargestellt, einschließlich des fleischigen Halses. Von großartiger Lebendigkeit sind die stark zur Seite blickenden Augen. Die Frisur mit den kurzflockigen Haaren ebenso wie der kurzflockige Bart sind jedoch an Haar- und Bartmoden des frühen 3. Jahrhunderts n.Chr. orientiert, man vergleiche etwa das Porträt des Macrinus (217 n.Chr.). Dass das Porträt im 4. Jahrhundert n.Chr. entstand, zeigen Frauenporträts, die als Gegenstücke zu diesem gearbeitet sind und Frisuren des 4. Jahrhunderts n.Chr. tragen.

Noch ein Porträt des 6. Jahrhunderts n.Chr. in Kopenhagen läßt Charakteristika des spätantiken männlichen Privatporträts erkennen. Es hat Tränensäcke, Gesichtsfalten, ist mimisch bewegt, trägt eine Frisur mit Lockenkranz und einen Stoppelbart. Mehrfache Umarbeitung muss dazu geführt haben, dass der Kopf auf sein eigentümlich schmales Volumen reduziert wurde.

Die im Verhältnis zu den Kaiserporträts eigenständige Gestaltung der rundplastischen Privatporträts von Männern in der Spätantike erschwert ihre Datierung. Mehr als früher lassen sich Einzellösungen beobachten. Doch bildeten sich immer wieder, zeitlich und lokal differenziert, neue Konventionen, die bestimmten, wie man auszusehen hatte. Diese Konventionen erfassten mehr als den geschilderten allgemeinen Zug zu größerem Realismus und mimischer Bewegung oder die Barttracht. Einige der Gestaltungsmittel sind anscheinend mit lokalen Werkstätten zu verbinden, doch ist auch zu beobachten, dass ähnliche Formen an weit auseinanderliegenden Orten vorkommen. Diese Details der Gesichtsbildung wirken individuell, werden aber kollektiv verwendet. So lebt das Phänomen des Zeitgesichtes auch ohne die Beteiligung der Kaiserporträts fort. Die Elemente einer zeitgebundenen Physiognomie, die die Büste in Thessaloniki und den Kopf in München aus den Jahren um 400 n.Chr. verbinden, geben davon eine Vorstellung.

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