Archaik

Griechische Porträts der archaischen Zeit

In Griechenland wurden in archaischer Zeit, seit dem späten 7. Jahrhundert v. Chr., erstmals Statuen großen Formats aufgestellt. Darunter gibt es Darstellungen, die von den Zeitgenossen nachweislich als Bildnisse bestimmter sterblicher Menschen bezeichnet wurden, also im antiken Sinne Porträts sind. Es gab für sie unterschiedliche Aufstellungsorte und Funktionen:  

− Weihgeschenke an Götter in deren Heiligtümern. Einige der hier aufgestellten Menschenbilder sollten nur durch ihre Schönheit die Gottheit erfreuen, als agalma, andere stellten die Stifter dar, die sich so unter den Schutz der Gottheit stellen.

− Grabdenkmäler mit Darstellungen der Verstorbenen, in Form von Statuen oder Grabreliefs, als Zeichen (sema) bleibender Erinnerung.

Individuelle Züge der Dargestellten nach modernem Verständnis sind nicht zu erkennen; dennoch sind die Skulpturen durchaus differenziert: Frauen und Männer in verschiedenen Lebensaltern, verschiedenen Städten und verschiedenen Rollen sind durch Körperbildung, Haltung, Kleidung und Attribute zu unterscheiden.

Die beiden am häufigsten vorkommenden Figurentypen sind die Kore und der Kuros, stehende schöne Frauen und junge Männer.

− Die weiblichen archaischen Statuen zeigen reich bekleidete und aufwendig frisierte junge Frauen. Sie tragen meist stoffreiche Untergewänder, die von einem Gürtel gehalten und mit einer Hand gerafft werden, dazu einen Mantel und Schmuck. Die heute verwendete Bezeichnung als Kore (= Mädchen) geht auf archaische Inschriften zurück.

− Die männlichen archaischen Statuen im Figurentypus des Kuros sind hingegen nackt, eine Darstellungskonvention, die geeignet ist, Kraft und Schönheit unverhüllt zu zeigen. Die heute unter Archäologen gebräuchliche Bezeichnung als Kuros ist in der Antike nicht in diesem Sinn belegt, sondern meint männliche Kinder bis zum Erwachsenenalter.

Weihgeschenke

Drei Frauenstatuen veranschaulichen unterschiedliche Möglichkeiten der Weihung von menschlichen Figuren in griechischen Heiligtümern:

− Die älteste Skulptur ist eine Statue im Typus der Kore, die auf Delos gefunden wurde. Die Inschrift, auf der linken Seite der Figur eingeritzt, spricht die Leser in der ersten Person an und verkündet, dass sie eine Stiftung der Nikandre an die weithintreffende Artemis sei, Tochter, Schwester und Gemahlin offenbar bedeutender, jedenfalls namentlich benannter Männer. Die Inschrift identifiziert die Statue zwar nicht ausdrücklich als Bildnis der Nikandre, doch liegt es nahe, diese Verbindung herzustellen. Eine andere Möglichkeit ist allerdings, dass die Statue die Empfängerin der Weihung, die Göttin Artemis, darstellte. Attribute, die eine Entscheidung für eine dieser Alternativen erlauben würden, sind nicht mehr erhalten.

− Die Figur der Ornithe stellt eine der Töchter des weihenden Familienoberhauptes dar. In dem von dem Bildhauer Geneleos geschaffenen Familienmonument im Heraheiligtum von Samos wurde sie zusammen mit den Statuen ihrer Eltern und Geschwister aufgestellt. Jede Figur war ursprünglich mit einer Namensaufschrift als ein bestimmtes Mitglied der Familie benannt. Der Name des Vaters (−arches) hat sich nicht vollständig erhalten.

− Eine weibliche Marmorkore im Heiligtum der Athene auf der Akropolis von Athen wurde von Euthydikos, Sohn des Thaliarchos aufgestellt, so die Inschrift auf dem Sockel der Statue. Eine Identifizierung der Statue als Darstellung des Stifters ist in diesem Fall natürlich ausgeschlossen. Das Motiv der Mädchenfigur wurde wohl nur gewählt, um der Göttin ein besonders schönes Prunkstück (agalma) als würdiges Weihgeschenk darzubringen.

− Die literarisch erwähnten Statuen, die als Sühne für Verfehlungen in Heiligtümern aufgestellt wurden, sind bisher archäologisch nicht nachzuweisen.

Grabdenkmäler

Zum Gedenken an bestimmte Verstorbene wurden Skulpturen auf ihren Gräbern errichtet. Neben Statuen kommen auch Stelen mit Reliefs vor, die die Toten darstellen. Frauendarstellungen sind eher selten; bei den Grabstatuen dominiert der Typus des Kuros. Wahrscheinlich galt diese besonders aufwändige Form der Totenehrung jung verstorbenen Männern.

Grabmonumente wurden mit dem Wort sema bezeichnet, wurden demnach als Zeichen für die Toten begriffen. Doch in einer Inschrift, die zu einer Kore von einem Grab gehört, wird die Statue zunächst als sema bezeichnet, das Mädchen Phrasikleia spricht den Leser dann aber in der ersten Person an: „Ich werde immer Kore heißen…“

Differenzierung

An Grabdenkmälern lässt sich besonders gut studieren, welche Variationsmöglichkeiten die Konventionen der archaischen Kunst in der Darstellung von Menschen erlaubten. Die hier gezeigten Möglichkeiten umfassen schon fast das ganze Spektrum:

− Die Stele des Lyseas zeigt einen bärtigen Mann in reifem Alter. Das lange Gewand unter dem Mantel sowie die Lorbeerzweige und der Kantharos in seinen Händen sind Zeichen seiner priesterlichen Würde.

− Das Fragment einer Stele zeigt den Kopf eines jungen Mannes mit langen Haaren, die unter dem Nacken zusammengebunden sind. Ein Diskos, der hinter dem Kopf am Reliefgrund dargestellt ist, kennzeichnet ihn als Sportler.

− Die Stele des Aristion zeigt den Verstorbenen als älteren Mann, der sich nicht mehr in der Schönheit seiner Jugend den Betrachtern präsentiert. Er ist also voll gerüstet sowie mit kurzem Bart und Haupthaar dargestellt, statt nackt und mit langen Haaren.

Militärische Leistungsfähigkeit kann auch durch den Bildtypus des Kuros zum Ausdruck gebracht werden. Gesundheit und Kraft waren ohnehin kein Selbstzweck, sondern wurden vor allem unter dem Aspekt der Kriegstauglichkeit gesehen.

− Am Grabkuros des Aristodikos wurde dieser Aspekt durch ein Attribut womöglich noch hervorgehoben. Denn auf dem Hinterkopf der Figur ist die Oberfläche nicht zu Haaren ausgearbeitet, sondern gepickt. Das lässt darauf schließen, dass hier eine Kopfbedeckung aus anderem Material befestigt werden sollte, vorgeschlagen wurde ein Helm.

− Das Reiten gehörte zum Lebensstil der athenischen Aristokratie. Eine Reiterstatue aus der Sammlung Rampin von der Athener Akropolis zeigt einen Mann in reifem Alter mit mäßig langen Haaren und Bart. Auf dem Kopf liegt ein Blattkranz. Trotz seines Alters ist der Reiter nackt dargestellt. Dieser Reiter stellt wohl ein Mitglied der archaischen Aristokratie dar. Auf der schon betrachteten Stele des Priesters Lyseas ist, als Hinweis auf seinen Rang, ein Reiter im kleinen Bildfeld am unteren Ende dargestellt.

Für Männer jenseits des Alters für die Darstellung als Kuros gibt es weitere Darstellungsformen. Ein Beispiel ist die Statue des sog. Kalbträgers von der Akropolis in Athen, mit der fragmentierten Inschrift eines [.]ombos. Dargestellt ist ein bärtiger Mann, der ein Kalb auf den Schultern trägt, also sein Opfertier im Heiligtum darbringt.

Der Mann ist nur mit einem schalartig vorn in zwei Zipfeln herabhängenden Mantel bekleidet, sonst bleibt sein Körper nackt. Damit kann keine der Wirklichkeit entsprechende Tracht für den Besuch eines Heiligtums gemeint sein, sondern es wird wiederum Kraft und Schönheit des Dargestellten hervorgehoben. Der Mantel deutet die Kleidung nur an, die einem Mann besonders in fortgeschrittenem Alter angemessen war.  

Das lebensgroße Format des Kalbträgers ist ungewöhnlich, doch im kleinen Format von Votivbronzen gibt es Träger von Opferträgern häufig. Eine Bronzestatuette aus Kreta zeigt einen mit Mantel und Hut bekleideten Mann, der einen Widder trägt. Selbst bei diesen in Serie produzierten (und vermutlich fertig beim Devotionalienhändler erworbenen) Bronzen ist wahrscheinlich, dass sie als Darstellungen der Stifter von Opfertieren und Votivbronzen gemeint sind.

Besondere Wertvorstellungen im ostgriechischen Raum: Jonien

Im griechischen Kleinasien und auf den vorgelagerten Inseln herrschten offenbar andere gesellschaftliche Wertvorstellungen als in Athen. Nicht nur Frauen, sondern auch Männer trugen dort lange Gewänder. Schon bei Homer heissen die ionischen Griechen, die diese Gegend bewohnten, helkechitones − die mit den schleppenden Chitonen (Homer, Ilias 13, 685).

Die Begüterten ließen sich ausserdem als pacheis (Sing. pachys, fett) bezeichnen (Herodot, 5, 30). Ihnen haftete hartnäckig der Ruf an, dem Wohlleben zu- und körperlicher Anstrengung abgeneigt zu sein. Aus der Zeit des ionischen Aufstandes gegen die Perserherrschaft zu Beginn des 5. Jhs. v.Ch. ist folgende Episode bekannt (Herodot 6, 12). Vor der Entscheidungsschlacht um Milet 495/4 v.Chr. sollten die ionischen Ruderer der Kriegsschiffe ein hartes Manövriertraining absolvieren. Nach sieben Tagen sollen sie das Rudern jedoch zu anstrengend gefunden und aufgegeben haben. Milet wurde vöig zerstört.

Die Selbstdarstellung von Joniern archaischer Zeit passt zu diesen Nachrichten. Sowohl die Sitzstatue des Chares von Teichiussa, die an der Heiligen Straße nach Didyma aufgestellt war, als auch die Figur eines Gelagerten vom Geneleosweihgeschenk im Heraheiligtum von Samos zeigen stattliche, wohlgenährte Männer. Weit entfernt vom athletischen Körperideal der attischen Kuroi, bekunden sie ihren Wohlstand auch durch reiche Kleidung, langes Untergewand und Mantel. Auch die Selbstdarstellung von Männern als gelagerte Symposiasten in der monumentalen Gattung großer Marmorstatuen ist spezifisch ostgriechisch.

Das vielfältige Bild, das archaische Menschenbilder bieten, entsteht durch wechselnde Kombinationen einer begrenzten Zahl von Formen und Attributen. Die Bildnisse lassen sich nach Altersstufen und Rollenbilder gruppieren, die bei den Männern von der jugendlichen Stufe der Kuroi über die Stufe der jungen erwachsenen Krieger bis zu den Darstellungen würdiger Honoratioren reicht; nur die Altersstufe der kahlköpfigen Greise, die in Vasenbildern bezeugt ist, ist bislang bei Skulpturen nicht belegt. Bei den Frauenbildnissen sind nur die Formen der stehenden Kore und der thronenden Frau bekannt. Das Geneleosweihgeschenk vereint auf einer Basis die Figuren der Eltern in Form eines gelagerten Mannes für den Vater und einer matronal thronenden Frau für die Mutter; dazu kommen die Figuren ihrer Töchter im Korentypus und die nur als Fragment erhaltene Figur des Sohnes als stehender Jüngling im Mantel.

Das zur Fülligkeit neigende Schönheitsideal Joniens prägt sogar die jugendlichen Züge von Koren und Kuroi. Die Körper- und Gesichtsformen des großen Kuros aus dem Heiligtum der Hera auf Samos sind im Vergleich mit Kuroi aus Attika fleischiger und gerundeter.   Der Kopf einer Kore aus Milet ist ausgesprochen pausbäckig; die Konturen des Gesichtes sind wohlgerundet.

Stil einer Landschaft: Attische Gesichter

Die Gestaltung der Gesichtszüge, die nach heutigem Verständnis für ein Porträt wesentlich sind, wird durch die Stilentwicklung in den einzelnen Kunstlandschaften bestimmt; individuelle Züge, die sich auf Eigenheiten der dargestellten Person zurückführen ließen, spielen dagegen keine Rolle.

Aufgrund der günstigen Überlieferungslage in Attika ist es dort möglich zu studieren, wie sich die Entwicklung des Landschaftsstils auch an den Gesichtern von Koren und Kuroi ablesen lässt. Bemerkenswert ist dabei, dass allein an den Gesichtsformen nicht einmal das Geschlecht dieser jugendlichen Bildnisse erkennbar ist. Erst in der Kombination mit Frisuren und Schmuck lassen sich Köpfe von Koren und Kuroi unterscheiden.

Zur Veranschaulichung sind hier in einer animierten Sequenz attische Gesichter zusammengestellt, wobei zunächst alles Beiwerk ausgeblendet wird.

Individualisierung?

Die auf heutige Betrachter sehr unpersönlich wirkende Stilisierung archaischer Menschenbilder wurde von den Zeitgenossen als völlig lebensecht und ähnlich angesehen. Ein Beleg dafür ist auf einer Hydria des Vasenmalers Euthymides aus der Zeit um 510 v.Chr. in München zu finden. Einem der dargestellten Männer, der müßig auf einen Stock gelehnt, einer musizierenden Gruppe von Männern und Knaben lauscht, ist auf der einen Seite der Name Demetrios beigeschrieben. Auf der anderen Seite steht nai zon: „wie er leibt und lebt“. Die Figur unterscheidet sich allerdings in nichts von dem am rechten Rand sitzenden Mann.  

Umgekehrt sind Gesichtszüge, die Abweichungen vom gängigen Ideal zeigen − also gerade in ihren Mängeln nach heutigem Verständnis Individualität ausdrücken − nur unter negativen Vorzeichen möglich. Gebogene Nasen, Mimikfalten oder Runzeln sind in archaischer Zeit nur an mythischen Ungeheuern oder negativ charakterisierten Menschen, z.B. Sklaven, zu beobachten. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Bild auf einer rotfigurigen Amphora der Zeit um 520 v.Chr., auf der Dike, die Personifikation des Rechts, Adikia, die Personifikation eines rechtlosen Zustandes niederschlägt. Dike hat normentsprechende Züge. Adikia ist durch eine krumme Nase, dicke Lippen und strähniges Haar charakterisiert.

Hinzu kommen Markierungen an Armen und Beinen, die vielleicht Geschwüre oder Tätowierungen meinen. Eine Darstellung der Adikia in dieser Form wird bereits auf einem der bedeutendsten Weihgeschenke archaischer Zeit, der Kypseloslade, beschrieben.

Solche Beispiele zeigen, dass normabweichende Züge in menschlichen Gesichtern durchaus wahrgenommen und dargestellt wurden. Wenn sie an Bildnissen von Stiftern in Heiligtümern oder an Grabstatuen nicht zu finden sind, liegt das nicht am Unvermögen der Künstler. Vielmehr zeigt sich hier besonders deutlich, dass Porträts stets nur eine Auswahl von als darstellungswürdig anerkannten Zügen enthalten. In der archaischen Kunst kommt den einzelnen Formen der Darstellung jeweils eine eigene zeichenhafte Bedeutung zu. In das Bildnis einer Person, das zu ihrem Angedenken oder als würdiges Weihgeschenk an eine Gottheit errichtet wurde, durften nur positiv bewertete Züge eingehen. Zufällige Eigenheiten der äußeren Erscheinung einer porträtierten Person, die von diesen Formen abwichen, hätten der Absicht geschadet, ein würdiges Bildnis zu schaffen; denn sie wären nicht positiv als realistisch, sondern negativ als häßlich und damit schlecht bewertet worden.

Dahinter steht das aristokratische Leitbild der kalokagathia, nach dem der ethisch gute Mensch auch schön zu sein hat. Archaische Bildnisse beschränken sich darum auf die wesentlichen Merkmale, die Kraft und Schönheit, aber auch Reichtum und Würde zum Ausdruck bringen. So können sie als historische Zeugnisse des Selbstverständnisses von Auftraggebern, Künstlern und ihrem Publikum gewertet werden.

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