Porträts des 5. Jahrhunderts v.Chr.

Die ersten öffentlichen Ehrenstatuen im Auftrag der Polis: Die Tyrannenmörder

Die Gruppe der Tyrannenmörder, Harmodios und Aristogeiton, auf der Agora von Athen ist in der griechischen Geschichte das erste Monument, das von der polis für Verdienste um die Gemeinschaft auf öffentlichem Grund errichtet wurde. Hinter diesem Monument standen die folgenden Ereignisse: Im Jahr 515 v.Chr. töteten Harmodios und Aristogeiton aus einem Ehrenstreit heraus den regierenden Tyrannen von Athen, Hipparchos. Bei dem Attentat kam Harmodios um, Aristogeiton wurde hingerichtet. Kurz danach wurde der verbleibende Regent und Bruder des Hipparchos, Hippias vertrieben; und 508 v.Chr. begann Kleisthenes, den athenischen Staat in Richtung einer größeren Beteiligung aller Bürger (Isonomie, Demokratie) umzugestalten. Der Mordanschlag des Freundespaares wurde rückblickend als patriotische Tat gewertet, mit der die Demokratie in Athen begründet wurde. Man errichtete den beiden auf öffentlichem Grund ein Monument. Für die demokratische polis war dieses Denkmal identitätsstiftend. Seine Errichtung bezeichnet den Moment der Entstehung der Ehrenstatue auf öffentlichem Grund, im Zentrum des politischen Lebens. Fast hundert Jahre lang gab es keine weitere solche Ehrenstatue auf der Agora von Athen, und noch später war es eine besondere Ehre, eine Statue neben den Tyrannenmördern zu erhalten.

Die Perser haben die Bedeutung des Monuments gekannt und es nach der Plünderung Athens 480 v.Chr. nach Persepolis entführt. Eine der ersten Maßnahmen nach dem Sieg der Griechen über die Perser war die Errichtung einer neuen Gruppe der Tyrannenmörder (477 v.Chr.). Auf diese Gruppe werden die Kopien einer Gruppe der Tyrannenmörder vom größeren Teil der Forschung zurückgeführt.

Das Aussehen dieser Skulpturengruppe ist durch eine Reihe verkleinerter Nachbildungen bekannt, unter anderem auf Münzen von Athen. Großplastische Kopien sind mehrfach überliefert. Die Abgussrekonstruktion basiert auf der Gruppe im Museum von Neapel. Der dort fehlende Kopf des Aristogeiton ist nach der Replik in Madrid ergänzt. Ein fragmentierter antiker Gipsabguss des Kopfes des Aristogeiton, der mit anderen Abgussfragmenten als Rest einer antiken Bildhauerwerkstatt in Baiae gefunden wurde, gilt als Abguss nach dem Bronzeoriginal. Das abgebildete Stück ist ein moderner Abguss des antiken Abgusses.

Nach antiker Überlieferung sollen Aristogeiton und Harmodios ein Paar gewesen sein, in der für die griechische Kultur des 6. und 5. Jahrhunderts v.Chr. typischen Verbindung eines älteren ‚Liebhabers‘ (erastes) mit einem jüngeren ‚Geliebten‘ (eromenos). Entsprechend ist Aristogeiton als älterer bärtiger Mann und Harmodios als bartloser lockiger Jüngling gekennzeichnet. Beide sind in Angriffshaltung wiedergegeben. Der jüngere Harmodios mit zum Schlag erhobenem Schwert scheint ungestümer, der ältere Aristogeiton besonnener, indem er mit vorgestrecktem Schwert den Gefährten schützt. Die Betonung der trainierten und wohlgebildeten Körper entspricht der archaischen Tradition. Auch die Rollenverteilung des Paares ist noch ganz den Wertvorstellungen der archaischen Adelsgesellschaft verpflichtet, die in Fragen der Lebensführung nach Einführung der Demokratie in Athen zunächst ungebrochen weiterlebten.

Sammlung E-learning Quellen Literatur
TyrannenmörderVorbild & Kopie: griechisch
Ehrenstatuen
 Tyrannenmörder

Die ersten individualisierten Porträts: Themistokles und Pindar

Lange waren Porträts des 5. Jahrhunderts v.Chr. nur von attischen Reliefs und durch Kopien von Vorbildern bekannt, die keine individualisierten Gesichtszüge zeigen, wie etwa die Statuen der Tyrannenmörder oder das Bildnis des Perikles. Darum war die Forschung der Überzeugung, dass das individualisierte Porträt in Griechenland erst im Laufe des 4. Jahrhunderts v.Chr. aufgekommen sei. Doch dann wurde im Jahr 1939 das Porträt des Themistokles bekannt; 1981 kam die Identifikation des Pindarporträts hinzu. Beide sind individualisierte Porträts aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. Die Anfänge des Individualporträts müssen seitdem neu bedacht werden. Dieser Vorgang in der Forschungsgeschichte illustriert, auf welch schmaler Faktenbasis die Erforschung der Porträts klassischer Zeit operiert; Neufunde können das Bild jederzeit ändern.

Das erste individualisierte Porträt der Griechen ist nach derzeitigem Kenntnisstand das des Themistokles. Es ist durch eine Herme mit Namensaufschrift aus Ostia überliefert. Der Porträtkopf des Themistokles hat ein breit gebautes, kräftig gerundetes Gesicht. Seine eigenwilligen Proportionen treten im Vergleich mit dem Kopf des Aristogeiton besonders klar hervor. Weitere Merkmale sind die Querfalte auf der Stirn, die leichten Kehlen, die von der Nasenwurzel schräg hoch nach außen führen, und der im Vergleich zum Aristogeiton energischer geschlossene Mund. Diese Züge können sowohl als Hinweise auf ein fortgeschrittenes Alter, wie auch im Sinne mimischen Ausdrucks verstanden werden.

Entstehungszeit und -ort?

Dass das Porträt des Themistokles der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. angehört, ist einerseits an der Ähnlichkeit der Haarwiedergabe mit der des Aristogeiton zu erkennen, andererseits an der Ähnlichkeit der schweren Formen des Gesichts mit denen der Giebelfiguren des Zeustempels von Olympia, der in den Jahren zwischen 472 und 459 v.Chr. entstand. Besonders eng sind die Beziehungen zwischen dem Themistoklesporträt und dem fülligen ältlichen Gesicht des Sehers aus dem Ostgiebel des Tempels.

Es stellt sich die Frage nach Entstehungszeit und Entstehungsort dieses ersten individualisierten griechischen Portäts. Nur zwei Bildnisse des Themistokles sind in den literarischen antiken Quellen zufällig erwähnt:

− Ein kleinformatiges Porträt, eikonion, soll Themistokles selbst in einem von ihm gestifteten Heiligtum der Artemis mit dem bezeichnenden Beinamen Aristoboule (= der den besten Rat gebenden) in seinem Heimatdemos Melite aufgestellt haben.

− Auf der Agora von Magnesia am Maeander, wo Themistokles nach seiner Verbannung zwischen 465 (?) und 459 v.Chr. als persischer Satrap lebte, soll eine Statue des Themistokles gestanden haben.

Diese mageren Nachrichten schließen allerdings nicht aus, dass von Themistokles, dem vielbejubelten Sieger von Salamis, auch anderswo, z.B. in den großen Heiligtümern, zeitgenössische Porträtstatuen gestanden haben.

Für die Deutung des Themistoklesporträts wäre es wichtig zu wissen, ob es vor oder nach dem Zeitpunkt der Verbannung des Politikers durch Ostrakismos 471/70 v.Chr. entstanden ist. Da historische Quellen fehlen, versuchte man, eine Datierung durch Einordnung in die Stilentwicklung der der frühklassischen Skulptur zu erreichen. Dazu müssten vor allem Werke verglichen werden, bei denen die Haarwiedergabe ähnliche Motive zeigt. Doch ausreichend präzise Ergebnisse lassen sich auf diesem Weg nicht erzielen. So muss die entscheidende Frage weiter offen bleiben, ob das erste individualisierte Porträt der Griechen in Athen bzw. in athenischem Auftrag oder eben fern von Athen entstand. Diese Unsicherheit wirkt sich auf die Diskussion um die Entstehungsvoraussetzungen und die weitere Entwicklung des individualisierten Porträts aus.

Die Gestaltung des Porträts und beabsichtigte Aussagen

Bei der Untersuchung der Aussageabsichten des Themistoklesporträts sollte die Frage, warum überhaupt in dieser Zeit individualisierte Bildnisse aufkamen, von der Frage nach der möglichen speziellen Aussage des einzelnen Porträts getrennt werden. Es gibt mehrere Vorschläge zur Bestimmung der intendierten Aussagen des Themistoklesporträts. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Haar- und Barttracht, das massige Gesicht und die zerschlagenen Ohren.

Kurzes Haar und Demokratie?

Die führende Frisurenmode der Aristokraten des 6. Jahrhunderts v.Chr. war, wie die Skulpturen zeigen, langes gewelltes Haar, das mit Bändern zusammengehalten wurde. Die Spartaner blieben noch lange bei dieser Haartracht. Zu ihren Schlachtvorbereitungen soll es gehört haben, sich das lange Haar zu kämmen (Xenophon, Lakedaimonion Politeia 11,13; Plutarch, Lykurg 22). Im frühen 5. Jahrhundert v.Chr. gingen die Männer in Griechenland sonst allmählich zu praktischeren Frisuren über. In einer kurzen Phase am Anfang des 5. Jahrhunderts v.Chr. trugen viele Männer das lange Haar in Zöpfen geflochten, die eng um den Kopf gelegt wurden. So berichtet Thukydides (1, 6), es sei noch nicht lange her, dass die älteren wohlhabenden Leute aufgehört hätten, ihr Haar aufzustecken. Die Generation der Marathonkämpfer soll noch langes Haar getragen haben, und auch am Parthenonfries aus den vierziger Jahren des 5. Jahrhunderts v.Chr. sieht man Greisenfiguren mit um den Kopf gelegten Zöpfen.

Schnell aber setzte sich eine kurze Haartracht durch, die schon im 6. Jahrhundert v.Chr. aufgekommen war. Bekannte Zeugnisse sind der Kouroskopf Rayet in Kopenhagen aus der Zeit um 530 v.Chr., und die jungen Aristokraten auf der sog. Ballspielerbasis in Athen, die eine spätarchaische Statue trug. Dabei war die Frisur, wie sie Aristogeiton trägt, zunächst sehr kurz und streng, sie wurde später wieder üppiger. Nur Spartanerfreunde und Angehörige der Reiterei sollen im späten 5. Jahrhundert v.Chr. noch oder wieder langes Haar getragen haben. Die Reiter waren in Athen ohnehin adliger Vorlieben verdächtig. Auf diesem Hintergrund wurde vermutet, das betont kurze Haar und der kurze Bart des Themistokles seien typische Moden der Anhänger der Demokratie.

Allerdings tragen diese Frisur auch die zwischen 478 und 474 v.Chr. entstandene Statue des Wagenlenkers des sizilischen Tyrannen Polyzalos in Delphi und das Porträt des Dichters und Aristokratenfreundes Pindar aus dem konservativen Theben, das vor 450 v.Chr. entstanden sein dürfte. Einer Deutung kurzen Haares als Demokratenmode sind diese Zeugnisse nicht günstig. Eher handelt es sich um den Ausdruck einer allgemeinen Veränderung von Auftreten und Selbststilisierung. Allerdings lässt sich auch nicht völlig ausschließen, dass die Frisur zumindest in der Frühzeit der Demokratie diese Konnotation haben konnte.

Fleischige Wangen und zerschlagene Ohren

Die fleischigen, um nicht zu sagen fetten Gesichtsformen des Themistokles entsprechen keineswegs dem Gedanken der kalokagathia, der Maxime, dass der vornehme Mann auch physisch wohlgebildet sei. Manche Forscher haben deshalb versucht, diese Darstellungsform zu nobilitieren oder ihr Entstehen dadurch zu erklären, dass sie von bekannten positiv belegten Ikonographien abgeleitet seien. Als Vorbilder werden dabei der Kraftmensch Herakles, aber auch die Ikonographie der Schwerathleten genannt. Der Vergleich mit einem etwa zeitgleichen Heraklestypus in Kopenhagen zeigt allerdings, wie eigenständig das Themistoklesporträt mit dem massigen und ausladenden Untergesicht ist, während das Gesicht des Herakles trotz der kräftigen Formen ausgeglichene Proportionen hat.

Der Gedanke an die Schwerathletenikonographie nimmt seinen Ausgang von den zerschlagenen Boxerohren. Beide Ohren des Themistoklesporträts haben eine charakteristische Doppelschwellung der oberen Ohrmuschel. Diese Deformation entsteht durch heftige Schläge beim Boxen und beim Pankration. Die griechischen Schwerathleten, d.h. Ringer und Pankrationkämpfer, waren schwergewichtig. Bis zum Ende der Archaik wurden sie − ähnlich wie die heutigen Sumo-Ringer − fettleibig dargestellt. In klassischer Zeit sind sie normhaft schlank wiedergegeben. Die Schwerathletik war wie alle Sportarten seit der archaischen Zeit eine Beschäftigung von Aristokraten und Freien. Die Darstellung zerschlagener Ohren findet sich deshalb gelegentlich schon bei archaischen Kouroi, wie bei dem Kopf Rayet in Kopenhagen aus der Zeit um 530 v.Chr., sowie bei klassischen Figuren junger Männer, wie dem sog. Athleten Kyrene-Perinth. Die zerschlagenen Boxerohren kommen allerdings nicht nur bei Sportlern, sondern auch bei dem Kraftmenschen und ständigen Kämpfer Herakles vor. Mit dem Anschluss an diese Ikonographie hätte Themistokles sich dann etwa als ein in schweren Kämpfen Erfahrener o.ä. dargestellt.

Seit das etwa zeitgleiche, ebenfalls deutlich individualisierte Porträt des Pindar bekannt ist, ist es nicht mehr unbedingt nötig, die normabweichenden Formen des Themistoklesporträts durch die Verwendung eines anderen, sozusagen fertigen ikonographischen Schemas zu erklären. Nun kann das Porträt des Themistokles als individualisiertes Bildnis akzeptiert werden. Mit dem Begriff Individualisierung ist damit nichts über das Verhältnis zum wirklichen Aussehen des Themistokles ausgesagt. Vielmehr soll damit zunächst nur die Charakterisierung einer Person als verschieden von den anderen bezeichnet werden. Eine gewisse Beziehung zum Aussehen des Themistokles mag darin bestanden haben, dass er kräftig bis leicht korpulent war, mehr jedoch nicht. Die Gestaltung des Bildnisses ebenso wie das Detail der zerschlagenen Ohren sollten wohl als gezielte Aussage verstanden werden, einige der damit verbundenen Assoziationen können wir heute noch fassen.

Der Büstenausschnitt der Herme in Ostia ist nackt. Versteht man das Fehlen eines Gewandes als Hinweis auf die originale Statue, wäre Themistokles in traditioneller Form nackt dargestellt gewesen. Hatte der Körper ideale Proportionen oder war er so füllig, wie das Gesicht es erwarten lässt? Die Möglichkeiten der Deutung dieses ersten Individualporträts stoßen schnell an ihre Grenzen. Man kann nur postulieren, dass das Bildnis in irgendeiner Weise der Selbstdarstellung des Themistokles entsprochen haben muss, die wiederum vielleicht einen schwachen Reflex in den uns zugänglichen Quellen findet. Die einschlägigen Nachrichten entstammen der römischen Kaiserzeit; eine Quelle ist immerhin Plutarch,

der sehr gelehrte griechische Schriftsteller des 2. Jahrhunderts n.Chr. Alle Quellen berichten von Themistokles‘ hohem Selbstbewusstsein. Erwähnenswert sind aber auch Nachrichten, nach denen Themistokles seine wenig elegante Abstammung und Erziehung bewusst ausspielte. Plut., Them. 2,3: ‚Bei vornehmen und eleganten Anlässen wurde er von denen, die für wohlerzogen galten, angegriffen und verteidigte sich ziemlich roh: Er verstehe nicht die Lyra zu stimmen und die Harfe zu spielen‘ (d.h. er verfasste und trug keine Lyrik vor, eine der eleganten Fertigkeiten der Adligen). ‚Aber er habe es verstanden, eine kleine und unbedeutende Stadt groß und berühmt zu machen.‘ Das Porträt hat mit seiner Abweichung vom Schönheitsideal etwas Provokantes, beruft sich mit den Athletenohren aber dennoch auf allgemein anerkannte Qualitäten, die auch dem kräftigen Gesicht abgelesen werden konnten.

Sammlung E-learning Quellen Literatur
  Xen. Laked. Politeia 11,13 Plut. Lykurg 22 langes Haar Marathonkämpfer, Thukydides (xxx)Porträt des Themistokles

Pindar

1981 kam in Aphrodisias in Kleinasien ein Tondobildnis aus dem 5. Jahrhundert n.Chr. mit der Namensbeischrift ‚Pindar‘ zutage. Damit war ein schon zuvor in mehreren Repliken bekannter Bildnistypus als Pindar zu benennen. Dieses Porträt eines älteren Mannes hatte man zuvor als Porträt des spartanischen Königs Pausanias angesehen. Das spätantike Porträt verändert die klassische Vorlage sehr stark, andere Kopien divergieren. Die als Abguss in Göttingen vorhandene Kopie in Rom verhärtet und vereinfacht die Darstellung, gehört aber vermutlich zu den getreueren Wiederholungen des Urbildes.

Anders als beim Themistoklesporträt weichen die Proportionen des Pindarporträts nicht von der klassischen Norm ab. Das Gesicht hat jedoch ausgeprägte Alterszüge und eine Mimik, die mit der scharfen Kopfwendung in Verbindung zu stehen scheint. Die Lippen wirken dabei entspannt. Der Dichter trägt dieselbe Kurzhaarfrisur wie Aristogeiton und Themistokles, dazu aber einen Bart, der zwischen Mund und Kinn eine geschnittene Stufe hat und unter dem Kinn zu einem festen Knoten eingedreht ist.

Pindar wurde nach 520 geboren und starb nach 446 v.Chr. Er lebte in Theben und pflegte Beziehungen zum gesamten griechischen Adel, dessen Ideale er in seinen Liedern verherrlichte. Einen groben Anhalt für die Entstehungszeit des Porträts in der Zeit des Strengen Stils gibt der Vergleich mit Skulpturen des Zeustempels

von Olympia. Einer der Kentaurenköpfe von diesem Bauwerk zeigt motivisch wildere Fältchen an der Nasenwurzel und den Nasenflügeln. Der Kopf ist deutlich linearer und ornamentaler gestaltet als das Pindarporträt. Das Pindarporträt hat weichere, verschiebbare Haut und stärkere Asymmetrien, was auf eine spätere Entstehung hinweist. Dennoch ist in der stark linearen Gliederung der Gesichter sowie in der Wiedergabe des Haares als schmale Sichelsträhnen eine deutliche Verwandtschaft zu erkennen, die auf zeitliche Nähe hinweist.

Die Darstellung des Sängers der Aristokratie mit ‚realistischen‘ Zügen erschließt sich schwer und nicht im Sinne einer politischen Programmatik. Der Vorschlag, die Barttracht, die ohne Parallelen ist, als besonders aristokratisch-preziös zu analysieren, konnte nicht mit ausreichenden Belegen gestützt werden. Ein anderer Vorschlag geht dahin, den geknoteten Bart als Mittel zur Charakterisierung des Musikers Pindar zu verstehen. Danach habe Pindar seinen Bart verknotet, damit dieser beim Spiel auf einem Saiteninstrument nicht im Weg war. Zu vergleichen wäre die Darstellung eines bewaffneten Satyrn, der sich in Vorbereitung auf den Kampf sein Haar und seinen Bart zusammengebunden hat.

Vielleicht darf man den Bartknoten Pindars auch mit der im frühen 5 Jahrhundert v.Chr. einsetzenden Mode in Verbindung bringen, langes Haar zwar nicht abzuschneiden, aber es streng gebändigt in Zöpfen, Rollen und Knoten zu tragen. Sogar das nach vorn gekämmte Haar des gleichzeitigen Homerbildnisses ist über dem kahlen Vorderkopf in einem Knoten zusammengefasst.  

Homer

Das Porträt des blinden Homer aus der Zeit des Strengen Stils ist ein Beispiel dafür, dass auch ein rein fiktives Bildnis Alterszüge und eine gewisse Mimik erhalten konnte. Der Dichter ist mit geschlossenen Augen als Blinder dargestellt. Er trägt einen langen Bart, das schüttere Haar des Oberkopfs ist von hinten nach vorn gezogen und über der Stirn verknotet, wie die Replik im Museo Barracco zeigt. Mit dieser Frisur wird eine Glatze zwar angedeutet, aber auch elegant verdeckt. Asymmetrische Falten auf der Stirn und eingefallene Wangen vervollständigen den Eindruck des verehrungswürdigen blinden Greises.

Sammlung E-learning Quellen Literatur
 Fiktive Porträts  

450-330 v.Chr.: Nebeneinander von nicht individualisierten und individualisierten Porträts

Perikles

Ein Porträt des Perikles ist in mehreren Wiederholungen überliefert und durch Inschrift identifiziert. Das Original wird in der Votivstatue vermutet, die auf der Akropolis stand und von Pausanias (xxx…) erwähnt wird. Das Porträt gibt Perikles mit alterslosen und mimisch unbewegten Zügen wieder. Das kurzgelockte Haar und der kurze Bart gehören zur üblichen Tracht des erwachsenen Mannes, wie man sie auf den athenischen Grabreliefs findet, die nach langer Unterbrechung in der Zeit des Perikles wieder einsetzten.

Perikles trägt hingegen einen hochgeschobenen korinthischen Helm. Diese Helmform wurde seit 480 v.Chr. nicht mehr getragen. Sie war aber in der Bildkunst so etabliert, dass sie auch in der Folge benutzt wurde, wenn jemand durch einen Helm als militärisch verdient dargestellt werden sollte. Das Aussehen der Statue des Perikles ist unbekannt. Es ist nicht auszuschließen, dass der Körper nackt war. Ob der Helm Perikles einfach als militärisch leistungsfähig oder präziser als Strategen kennzeichnet − er wurde seit 443 v.Chr. 15 mal hintereinander zum Strategen, dem höchsten militärischen Amt, gewählt − ist nicht sicher.

Fraglich ist, ob eine Reihe weiterer Porträts behelmter Männer des 5. und 4.Jhs.v.Chr, die in mehreren Kopien überliefert sind, alle Strategen darstellen. Die Göttinger Sammlung besitzt Abgüsse von drei solchen derzeit nicht benennbaren Porträtköpfen nach klassischen Originalen, die teils früher, teils erheblich später als das Porträt des Perikles entstanden sind. Sie seien hier aufgeführt, um zu zeigen, dass die Form des Periklesporträts einem geläufigen Bildschema folgt.

Nach dem Auftakt im Strengen Stil mit den ausdrucksvoll individualisierten Porträts des Themistokles und des Pindar ist die starke Zurückhaltung der individuellen Charakterisierung des Periklesporträts bemerkenswert. Über die verschiedenen Interpretationen dieser Abfolge wird in Abschnitt zu Norm und Individuum berichtet.

Bezogen auf das Porträt des Perikles kann aber gefragt werden, ob ein Zusammenhang zwischen der Politik und der sonst bezeugten Selbstdarstellung des Staatsmannes und der Gestaltung des Porträts denkbar ist. Bedeutsam sind dabei die Bemerkungen über Perikles‘ Verhalten, die am ausführlichsten bei Plutarch in der Lebensbeschreibung des Perikles überliefert sind. Er war immerhin über 20 Jahre der einflussreichste Politiker der Weltmacht Athen − eigentlich ein Herrscher, wie Thukydides sagt. Außerdem war er so reich, dass angeblich er den Kritikern des Parthenonbaus anbieten konnte, den Tempel selbst zu bezahlen, dann allerdings würde er seinen Namen darauf schreiben. Gleichzeitig aber muss er sich aus politischen Gründen im Auftreten völlig zurückgenommen haben (Plutarch, Perikles 14): offenbar um nicht als Aristokrat aufzufallen, der er nach Herkunft und Vermögen war, um seine Würde zu wahren, und um hinter der Rolle des demokratiekonformen Bürgers zurückzutreten. Nach Plutarch (Perikles 5 und 7) war er bekannt für sein beherrschtes Gesicht (prosôpou systasis), das selten lachte, den gelassenen Gang, den anständigen Faltenwurf des Mantels, der auch bei leidenschaftlicher Rede nicht in Unordnung geriet und den ruhigen Klang in der Stimme, sowie für sein beherrschtes Verhalten in fast jeder Situation. Im selben Sinn soll er sich aller Teilnahme an lärmender Festlichkeit und Verbrüderung enthalten haben. Distanziertheit, vollkommene Beherrschung, Enthaltung gegenüber persönlicher Ostentation und das Zurücktreten hinter der Funktion innerhalb der Polis können die Aussagen des Porträts gewesen sein.

Es gibt weitere Bildnisse des 5.Jahrhunderts v.Chr. in der Art des Perikles. Ein Beispiel ist ein Kopf in Berlin, das wegen des kurzen Haares in Kombination mit dem Bart keine Gottheit sondern einen Menschen darstellen muss. Es unterscheidet sich in keiner Weise von den Porträts gleichzeitiger Grabreliefs. In der Göttinger Sammlung lassen sich zwei Männer auf einem bescheidenen kleinformatigen Grabrelief des späten 5. Jahrhunderts v.Chr. besonders gut vergleichen.

In der Göttinger Sammlung vertreten noch die Männer auf zwei attischen Grabreliefs dieses Musterbild des attischen Bürgers, der die Normen der hochklassischen Zeit befolgt. Die Männer auf den Grabreliefs sind in der normalen Tracht im Mantel dargestellt.

Daneben existierten andere Porträts, die individualisiert waren, wenn auch nur schwach im Vergleich zu den Porträts des Themistokles und des Pindar aus der Zeit des Strengen Stils. In der Göttinger Sammlung sind diese raren Beispiele durch ein Porträt des Redners Lysias vertreten. Das Exemplar in Neapel überliefert den Namen Lysias, ist aber durch die fast hellenistisch wirkende Stofflichkeit der Tränensäcke, die unruhigen Falten um die Augen und die starke Mimik verfälscht. Vermutlich gibt ein Porträt im Kapitolinischen Museum das Porträt des Lysias getreuer wieder. Lysias ist durch die Glatze als Angehöriger der Altersstufe der alten Männer gekennzeichnet, in das Gesicht sind einige wenige Stirnfalten eingetragen, das Alter äußert sich sonst nur in leichten Tränensäcken und angedeuteten Nasolabialfalten. Es fällt auf, dass der berühmte Redner und Metöke Lysias, der die Annahme des athenischen Bürgerrechts ablehnte, sich dennoch weitgehend in einem wenig individualisierten athenischen Porträt darstellen ließ.  

Kopf von Porticello

Außerhalb von Athen gab es im 5. Jahrhundert v.Chr. jedoch weiterhin kräftig individualisierte und charakterisierte Porträts. Das zeigt ein bedeutender Fund aus dem Meer bei Porticello an der Straße von Messina. Der Kopf kommt aus dem Wrack eines Schiffes, das nach der mitgeführten Keramik nach 415/385 v.Chr. gesunken ist. Es enthielt u.a. Bronzeskulpturen, die schon einmal aufgestellt gewesen waren und weiterverwendet werden sollten. Die genauere Datierung des Bronzekopfes in den Jahrzehnten zwischen etwa der Parthenonzeit und dem Zeitpunkt der Schiffskatastrophe ist umstritten. Der Kopf gibt einen Mann mit kräftig gebogener Nase und Stirnfalten wieder. Der Bart ist ungewöhnlich lang und üppig, das Haar schütter und einzelne Strähnen sind über den kahlen Schädel gekämmt. Dass in diesem Kopf analog zu Homer etwa ein mythischer Seher o.ä. gemeint sein könnte, ist wohl wegen der Hakennnase auszuschließen.

Die Charakterisierung durch den Körper: Anakreon

Welch hohe Bedeutung die Körper bei der Bildnisgestaltung hatte und welche subtilen Mittel der Charakterisierung einer Person möglich waren − unabhängig von der Frage des tatsächlichen Aussehens − zeigt die Statue des Dichters Anakreon. Sie ist durch mehrere Kopfkopien, darunter die Herme mit Inschrift im Konservatorenpalast überliefert. Dazu kommt eine Statue mit Kopf in Kopenhagen. Anakreon war ein lyrischer Dichter, der im späteren 6. und im frühen 5. Jahrhundert v.Chr. an verschiedenen Tyrannenhöfen lebte, unter anderem in Athen. Die durch die Kopien überlieferte Statue entstand nach ihrem Stil in den vierziger bis dreißiger Jahren des 5. Jahrhunderts v.Chr. Das hat zu der Vermutung geführt, dass sie die von Pausanias (1,25,1) erwähnte Statue ist, die neben der des Xanthippos, Vater des Perikles, auf der Akropolis stand und dass beide Weihungen der perikleischen Zeit waren. Anakreon ist für sein Lob der Trunkenheit bekannt, seine Liebeslyrik und für den Jammer über den Verfall des Alters.

In der Statue ist Anakreon nackt bis auf ein Mäntelchen dargestellt, mit alterslosem Körper. Anakreon schlägt vermutlich die Barbiton und hat den Kopf singend leicht schief gelegt. Dabei ist er nicht einfach als Sänger und in der dem Ideal der kalokagathia entsprechenden Nacktheit dargestellt. In einer Zeit, die gerade die Durchführung des Kontrapost entwickelt hatte, steht er leicht schwankend: im Verhältnis zum vorgesetzten rechten Bein ist die Hüfte zu schräg gestellt, hinzu kommt der schiefgelegte Kopf. Anakreon ist damit wahrscheinlich als leicht trunkener Symposionteilnehmer gekennzeichnet, wozu der bei manchen Kopien überlieferte Efeukranz passt. Dass die Trunkenheit keine haltlose, sondern im Sinne der perikleischen Zeit eine gesittete ist, zeigt das aufgebundene Glied des Sängers, das sich auf Vasenbildern bei Symposiasten und Sportlern findet. Die Statue ist als Ausdruck der von Perikles bei Thukydides beschworenen Stimmung in Athen gedeutet worden (Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges 2, 38-40) Athen als Ort, der Macht und Gewalt auszuüben weiß, zugleich aber mehr als andere mit Anmut Feste zu feiern versteht.

 Sammlung E-learning Quellen Literatur
AnakreonKopf und Körper  

Die wenigen erhaltenen Beispiele für rundplastische Porträts des 5. Jahrhunderts v.Chr., bei denen genug Informationen zu ihrer historischen Einordnung vorhanden sind, bieten ein Panorama divergierender Gestaltungsmöglichkeiten. Eine lineare Entwicklung, die etwa von nicht individualisierten über wenig individualisierte zu stark individualisierten Porträts führte, fand offenbar nicht statt. Im Gegenteil, gerade die frühen Bildnisse des Themistokles und Pindar sind besonders eindrückliche Beispiele für Individualisierung. Doch würde auch die Annahme, dass nach einer Experimentierphase im Strengen Stil eine neue, zur Konformität drängende Mäßigung in hochklassischer Zeit die Oberhand gewann und so zum Porträt des Perikles führte, der komplexen Situation nicht gerecht. Denn die zwangsläufig unsystematische Auswahl des Überlieferten ist wahrscheinlich zu sehr auf Athen konzentriert. Der Kopf aus dem Meer bei Porticello lässt erkennen, dass es unter anderen Bedingungen, außerhalb Athens stets noch weitere Gestaltungsmöglichkeiten gab. Auf eine Bereicherung unserer Kenntnisse durch Neufunde darf man weiterhin gespannt sein.

Die Frage nach den größeren Zusammenhängen zwischen den so verschiedenartigen Erscheinungen im Porträt des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. wird im Anschluss an die Betrachtung der Porträts des 4. Jahrhunderts v.Chr. erörtert.

 Sammlung E-learning Quellen Literatur
 4. Jahrhundert
Norm & Individuum