Klassische Porträts: Norm und Individuum

Betrachtet man die Porträts der klassischen Zeit, des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. im Zusammenhang, treten zunächst vier Phänomene von zentraler Bedeutung hervor.

− Ehrenstatuen auf öffentlichem Grund und in öffentlichem Auftrag wurden zum ersten Mal im frühen 5. Jahrhundert v.Chr. in Athen aufgestellt. Sie waren in der Folge bis ins 6. Jahrhundert n.Chr. ein charakteristisches Phänomen der antiken Kultur. Die Entstehung der öffentlichen Ehrenstatue ist ursächlich mit der Demokratie verbunden.

− Wie die Statuen der Tyrannenmörder zeigen, ist das etwa gleichzeitige Aufkommen des individualisierten Porträts nicht an die Ehrenstatue gebunden oder durch sie verursacht.

− Individualisierte Porträts wurden wahrscheinlich an verschiedenen Orten etwa zur gleichen Zeit verwendet. Das Porträt des Themistokles stand an einem unbekannten Ort (Athen? Magnesia am Maeander? anderswo?), das des Pindar vielleicht in seiner Heimatstadt Theben. Schon weil Themistokles und Pindar zumindest längere Zeit Exponenten verschiedener Gesellschafts- und Staatsformen waren, kann die Einführung des individualisierten Porträts nicht an ein bestimmtes politisches System gebunden gewesen sein.

− Das Aufkommen des individualisierten Bildnisses führte nicht zum Aussterben normierter Bildnisformen. Jahrhundertelang wurden beide Bildnisformen nebeneinander benutzt. Die fortdauernde Gültigkeit normierter Bildnisse bezeugen vor allem die athenischen Grabreliefs der Jahre 430 bis 317/07 v.Chr. mit ihren drei Altersstufen der Männer. Das zeitliche Nebeneinander von nicht individualisierten und stark individualisierten Bildnissen in der Rundplastik kann für das 5. Jahrhundert v.Chr. besonders die Gegenüberstellung des Periklesporträts mit dem Kopf von Porticello bezeugen, der wahrscheinlich im 5. Jahrhundert entstand.

Daran schließen sich drei Fragen an.

− Was sind die Gründe für die gleichzeitige Verwendung der beiden Bildnisformen?

− Und genauer: Wie ist es zu verstehen, dass sich nach den ersten stark individualisierten Bildnisformen in der Zeit des Strengen Stils in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. wieder nicht oder wenig individualisierte Porträts wie das des Perikles und seiner Verwandten nachweisen lassen?

− Mit diesen Fragen eng verbunden und ohne sie nicht zu lösen ist die Suche nach den Gründen für das Aufkommen des individualisierten Porträts.

In der wissenschaftlichen Diskussion ist besonders die zweite Frage, wie das Nacheinander von Themistoklesporträt, Pindarporträt und Periklesporträt zu verstehen ist, diskutiert worden. Dabei spielen u.a. folgende Positionen und Argumente eine Rolle.

Es wäre möglich, das Problem als lokal bedingt zu begreifen und zu behaupten, individualisierte Porträts seien zunächst außerhalb von Athen verwendet worden. Im demokratischen Athen dagegen hätte man sich nicht von der Menge abheben dürfen, und deshalb seien die Porträts aller Athener vor und nach Perikles nicht individualisiert gewesen. Angesichts anderer leicht individualisierter Porträts des 5. Jahrhunderts in der Art des Lysias scheint es aber doch empfehlenswert, die Individualisierung als eine allgemeine Darstellungsmöglichkeit seit der Zeit des Strengen Stils anzusehen.

Begreift man alle erhaltenen Porträts des 5. Jahrhunderts v.Chr. als Repräsentanten allgemeiner Möglichkeiten der Gestaltung, sind für die Frage, wieso auf Porträts wie die des Themistokles und Pindar das Porträt des Perikles folgen kann, vor allem zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Der eine betrifft die allgemeine Entwicklung der Kunst, die möglicherweise mit mentalen Einstellungen gekoppelt war.

Während der Strenge Stil von einer exzessiven Neigung zu realistischen Formen und Effekten gekennzeichnet war, folgte darauf seit der Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. eine allgemeine Rücknahme von Realismen und ein neues Interesse an geschönt harmonisch-modellhaften Formen. Solche Veränderungen mussten allerdings nicht notwendig zur zeitlosen Normhaftigkeit des Porträts des Perikles fü. Für diese Gestaltung des Porträts müssen auch politische Absichten und ein möglicherweise zum Exzess getriebenes Ideal demokratischer Normhaftigkeit eine Rolle gespielt haben.

Die demokratische Haltung, in der die Individualität hinter der Rolle des Bürgers in der polis zurücktritt, muss dann weiterhin eine wichtige Komponente zumindest der Porträts in Athen gewesen sein. Der Kopf von Porticello ist möglicherweise ein Beleg dafür, dass anderswo andere Regeln galten. Hätte die demokratische Ideologie die grundsätzlich mögliche und mancherorts übliche individualisierte Gestaltung von Porträts sozusagen zurückgehalten, wäre es verständlich, wenn es diesbezüglich immer wieder Unterschiede gegeben hätte, die zu ermitteln vorläufig schwer fällt.

Dieser politisch-ideologischen Begründung für wichtige Aspekte des Nebeneinanders von individualisierten und nicht individualisierten Porträts im 5. Jahrhundert v.Chr. steht eine Deutung des Phänomens aus religiöser Perspektive gegenüber. Das öffentliche Bildnis soll demnach lange Zeit nicht individualisiert gewesen sein. Individualisierte Porträts seien Eigenweihungen der Dargestellten, die sich der Gottheit gegenüber in ihrer irdischen Bedingtheit zeigten. Dieser Vorschlag stellt die Porträts des 5. Jahrhunderts v.Chr. in die Folge von Darstellungsgewohnheiten des 6. Jahrhunderts v.Chr. Dort bedeuteten realistisch charakterisierende Züge eher eine Minderung des Ranges der so dargestellten Personen. Insgesamt scheint aber doch die Möglichkeit gering, diese Deutung in den Wertvorstellungen der griechischen Welt zu verankern.

Das Aufkommen des individualisierten Porträts wäre aufgrund solcher Überlegungen weder mit bestimmten politischen Ereignissen und Ideologien zu verknüpfen und selbstverständlich nicht mit historischen Ausnahmepersönlichkeiten wie Themistokles. Zwei Kontexte sind zu berücksichtigen. Die individualisierten Porträts kamen in einer Zeit auf, in der auch mythologische Figuren in erzählenden Zusammenhängen durch ausführlichere Altersmerkmale oder situationsbedingte Mimik bzw. physiognomische Einzelheiten gekennzeichnet waren. Ein Beispiel ist der alte Seher mit den Falten im Gesicht und den Augenwinkeln aus dem Ostgiebel des Zeustempels von Olympia (vor 457 v.Chr.), der besorgt den sich anbahnenden Geschehnissen entgegenblickt. Ein anderes Beispiel ist das durchfurchte Gesicht des Herakles beim Aufbruch der Argonauten auf einem Krater des Niobidenmalers im Louvre um 460 v.Chr.

Doch ist die Kennzeichnung von porträtierten Personen als alt oder korpulent nicht situationsbedingt und hat daher einen eigenen Aussagewert. Diese Kennzeichnung der Einzelpersönlichkeit, die nur bedingt mit Ähnlichkeit gleichgesetzt werden muss, hat ihre Parallele im gleichzeitigen Aufkommen des Historienbildes (Marathonschlacht in der Stoa Poikile). Beides ist, wie vielfach betont wurde, Ausdruck genereller und tiefgreifender Veränderungen der griechischen Mentalität im späten 6. und im 5. Jahrhundert v.Chr. Die Lösung aus den archaischen Normen und der Gedanke, dass der Mensch eigenverantwortlich handelt und damit das Besondere an seiner Person zu rühmen ist, waren von großer Wichtigkeit. Diese bestimmenden Gedanken drücken sich etwa in den Tragödien der Zeit aus.

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Tyrannenmörder
Zeustempel von Olympia
5. Jahrhundert v.Chr.
4. Jahrhundert v.Chr.