Porträts von Philosophen im Hellenismus

Das Prinzip, dass der Einzelne sich nicht ungebührlich aus der Polisgemeinschaft herausheben sollte und die Konvention, dass an einer Person vor allem der bürgerlichen Norm entsprechende Züge darstellenswert waren, verlor in hellenistischer Zeit nicht seine Gültigkeit. Doch differenzierte man jetzt stärker, und andere Wertvorstellungen konnten sich im Porträt niederschlagen. Das wird besonders deutlich bei den Darstellungen der Philosophen und Literaten. Im frühen Hellenismus entwickelte man bei diesem Thema neue und bis dahin unerhörte Gestaltungsmöglichkeiten.

Die Stellung von Philosophen und Literaten in der hellenistischen Welt

Philosophen, Wissenschaftler und Dichter gewannen in hellenistischer Zeit eine Anerkennung, die sich nicht nur auf die Einzelperson, sondern darüber hinaus auf die ganze Gruppe der Intellektuellen erstreckte. Seit der Einrichtung der Akademie Platons (387/6 v.Chr.) wurde Athen ein Ort, an dem führende Philosophenschulen entstanden: der Peripatos des Aristoteles, die von Zenon begründete Stoa und der Garten (kepos) Epikurs. Bildung wurde immer mehr zu einem hohen Gut. Die Könige versuchten, die bekanntesten Wissenschaftler, Philosophen und Dichter an ihren Hof zu ziehen. Die ersten Ptolemäer gründeten in Alexandria das Mouseion. An dieser Bildungs- und Forschungsstätte entstand die größte Bibliothek der Antike, an die die jeweils führenden Vertreter ihres Metiers berufen wurden. Andere, wie die Könige von Pergamon, folgten diesem Beispiel. Entsprechend waren Philosophen und Literaten in den poleis hoch geschätzt. Sie dienten ihrer Stadt in diplomatischen Missionen und erhielten öffentliche Ehrungen − natürlich auch in Form von Statuen. Zugleich standen Bildnisse der Philosophen an den Stätten ihrer Lehre. Ihre Anhänger vergegenwärtigten sich so den Geist der Gründer einer Schule, sie feierten und bekränzten die Bildnisse an Gedenktagen.

Die großen Dichter vergangener Zeiten, allen voran Homer, wurden in Alexandria und anderen Orten kultisch verehrt. Ein anschauliches Zeugnis dafür ist das Weihrelief eines Archelaos von Priene in London. Am Fuß eines Berges, Sitz des Zeus und der Musen, sieht man den thronenden Homer, umgeben von Personifikationen der Dichtung und Weisheit, die ihm huldigen. Hinter Homer stehen ein hellenistischer König und eine Königin, die durch Attribute und Beischriften als Chronos („Zeit“/“Ewigkeit“) und Oikumene („bewohnte Erde“) bezeichnet sind.

Überlieferung

Originale Statuen der berühmten hellenistischen Dichter und Philosophen haben sich nicht erhalten. In römischer Zeit wurden nicht nur ihre Schriften gelesen, sondern man wollte dabei auch ihre Bildnisse vor Augen haben. Deshalb wurden griechische Porträts häufig kopiert. Im späten 1.Jahrhundert n.Chr. spottete der römische Satyriker Juvenal (Sat. 2, 4−5) über die Ungebildeten, bei denen man alles mit gipsernen Bildnissen des Chrysipp (des Stoikers des 3. Jahrhunderts v.Chr.) vollgestopft fände. Der am besten bekannte antike Aufstellungskontext für die Porträts von Literaten und Philosophen ist − ebenso wie für die Porträts hellenistischer Könige − die Villa dei Papiri in Herculaneum.

Göttinger Statuenrekonstruktionen

Einige der bekanntesten Dichter- und Philosophenstatuen der Antike wurden von K. Fittschen in Göttingen im Abguss rekonstruiert. Diese Rekonstruktionen dienen nicht nur der Anschaulichkeit, sondern waren wissenschaftliche Tests. Aus der Antike haben sich mehrere Statuentypen sitzender Männer erhalten, die offenbar römische Kopien nach griechischen Vorbildern sind, und aufgrund des Sitzmotivs Dichter oder Philosophen darstellen müssen. Zu diesen Statuentypen mussten mit großer Wahrscheinlichkeit auch Kopftypen aus dem römischen Kopienbestand gehören, die nur als Teilkopien in Büstenform gearbeitet waren. Die sicherste Möglichkeit, die Zusammengehörigkeit von Köpfen und Körpern zu prüfen, besteht im Anpassen der Gewandmotive überlieferter Büsten an die Statuen. Dies wurde in Göttingen versucht. Beim Zusammensetzen zeigte sich, dass die Gewandansätze der Büsten sich zum Teil so genau in die Statuen einfügen, dass an der Zusammengehörigkeit von Köpfen und Körpern kein Zweifel mehr bestehen kann. Eine ausführlichere Darstellung der Rekonstruktionen findet sich im Kapitel zum Thema Kopf und Körper.

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 Kopf & Körper  

Stoiker: Die Darstellung des Denkens und gealterte Körper

In Athen mit seiner strengen demokratischen Tradition hatte man im 4. Jahrhundert v.Chr. den lange verstorbenen großen Sophokles und den zeitgenössischen Redner Aischines kaum individualisiert und als Bürger, bestenfalls in zurückhaltender Rednerpose dargestellt. Ähnliches ist nach den erhaltenen Köpfen von den Statuen des Platon und Aristoteles zu erwarten. Im Hellenismus hingegen interessierte man sich dafür, bei solchen Personen die Tätigkeit des Denkens zu kennzeichnen. Das konnte einerseits durch Haltung und Mimik erreicht werden. Zugleich wurde es sinnlos, diese meist älteren Männer mit Körpern zu zeigen, die der Norm der kalokagathia entsprachen. Im Gegenteil: körperliche Hinfälligkeit hob die Kraft ihres Geistes umso mehr heraus. So entwickelte man bei diesen Darstellungen ein eigenes Pathos des alternden Körpers.

Die radikalsten Darstellungen dieser Art zeigen die beiden markantesten Vertreter der Stoa, einer Philosophenschule, die für ihr besonders scharfes analytisches Argumentieren bekannt war.

Zenon

Das Porträt des Begründers der Stoa, Zenon, der 332 geboren wurde und von 312/11 bis zu seinem Tod 262 v.Chr. in Athen lehrte, ist durch mehrere beschriftete Bildnisse identifiziert, darunter die abgebildete Büste in Neapel. Das Vorbild könnte − wie dies oft der Fall war − zu einer kurz nach seinem Tod errichteten Ehrenstatue gehört haben. Der Kopf wirkt eigentümlich durch seine im 3. Jahrhundert v.Chr. beliebte Komposition, bei der der Umriss und die Hauptlinien der Binnengliederung durch ein System von Senkrechten und Waagrechten bestimmt werden. Umso mehr fällt die starke Zusammenziehung der Stirn auf, die in einzigartiger Intensität die Denkanstrengung des ersten Stoikers verdeutlicht. Vom Ideal der kalokagathia ist dieses Porträt weit entfernt.

Chrysipp

Die Identifizierung der Statue mit Chrysipp (281/77−208/4 v.Chr.) beruht auf Schriftquellen, die Statuen Chrysipps porrecta manu, „mit vorgestreckter Hand“ erwähnen und mit Fingern, „die zu zählen scheinen“.

Das Alter des Dargestellten und die aus dem Stil der Statue zu erschließende Zeitstellung in der 2. Hälfte 3. Jahrhunderts v.Chr. bestärken diese These. In der Göttinger Rekonstruktion sind eine Büste im Britischen Museum und eine Statue im Louvre zusammengesetzt, deren Mantelstücke aneinanderpassen. Die in der Rekonstruktion irritierend wirkende Neigung des Bruststücks, die vom Körper der Statue abweicht, erklärt sich aus statischen Problemen der Kopie in Büstenform, die im Kapitel zum Thema Kopf und Körper erläutert werden.

Beim Porträt des Chrysipp, der von 232 bis 208/4 v.Chr. Schuloberhaupt der Stoiker war, ist die Übersteigerung der Stirnkontraktion etwas zurückgenommen, seine Charakterisierung als Philosoph aber dennoch in vielen Einzelheiten hervorgehoben. Das Original der römischen Kopie im Louvre war vielleicht die von Pausanias erwähnte Statue Chrysipps auf der Agora von Athen mit der vorgestreckten Hand. Sie mag nach Chrysipps Tod 208/4 entstanden sein. Wie der Kopf des Zenon ist auch diese Figur von einer künstlerischen Konvention bestimmt, die zu strengen, fast quaderförmigen Umrissen und abstrakten Binnenaufteilungen tendiert. Eingefügt in diesen formalen Rahmen ist ein höchst gebrechlicher, in sich zusammengesunkener Greisenkörper mit schiefen Beinen. Auch der Kopf zeigt starke Alterszüge und einen in einzelnen Büscheln wachsenden Bart, der als typisch für Personen galt, die die Pflege des Körpers vernachlässigen. Der schwere Mantel ist ungewöhnlich kurz und soll vielleicht als Zeichen asketischer Lebensweise verstanden werden. Aber der Greis ist voll inneren Feuers. Die Rekonstruktion der Kopfhaltung ist nicht ganz gesichert, nach der Haltung der Londoner Büste muss der Kopf aber eher noch ruckartiger nach oben gereckt sein. Entsprechend ist der Ausdruck heftig konzentriert. Die Hand ist mit gekrümmten Fingern argumentierend vorgestreckt. Vielleicht darf man die genannten Quellen so verstehen, dass Chrysip mit den Fingern die Punkte der Argumentation aufzählt. Die Statue stellt ihn jedenfalls als einen scharfen Argumentierer dar, dessen körperliche Hinfälligkeit die Frische seines Geistes umso mehr unterstreicht. Unter eine der bezeugten Porträtstatuen Chrysipps ließ sein Neffe schreiben: „…das Messer, das die Knoten der Akademiker durchschneidet“.

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 Kopf & KörperPaus. 1,17,2 Cicero, De fin. 1,39 Sidon. Apollin. Epist. 9,14 Diog. Laert. 7,182 Plut. De stoic. repugn. 1033E 

Poseidonios

Aus wesentlich späterer Zeit besitzen wir das Porträt des bedeutenden Stoikers Poseidonios (ca. 135−50 v.Chr.) in römischer Kopie. Die wilde Denkermiene seiner Vorgänger ist bei diesem Porträt geglättet. Es ist ein mildes, abgeklärtes Porträt eines älteren Mannes in fast klassischer Ausgewogenheit. − War dies die neue Form der Philosophenporträts, oder ist Poseidonios dem Typus der Bürgerporträts seiner rhodischen Umgebung angeglichen worden?

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 Hellenistische Bürger & Intellektuelle: Bürger
Republikanische Porträts
  

Epikureer: Epikur, Metrodor und Hermarch

Die Porträtstatuen der ersten Epikureer sind deutlich konservativer und viel stärker in die alten athenischen Normen eingebunden als die der Stoiker. Der Schulgründer Epikur (342/1−271/70) und sein schon vor ihm gestorbener Freund und Schüler Metrodor (331/330−278/77 v.Chr.) sind ruhig sitzend dargestellt.

Die Benennung der Porträtköpfe des Epikur und Metrodor ist durch beschriftete Repliken gesichert. Das Zusammenfügen mit den zugehörigen Statuenkörpern wurde möglich, weil einige Kopien den Kopf mit dem Büstenausschnitt der originalen Statue wiedergeben. Die Gewandteile der Büsten passen sich in die Faltenzüge kopflos erhaltener Torsen ein, wodurch die Zugehörigkeit gesichert ist. Die Rekonstruktion des Epikur besteht aus einer Statue in Athen und einer Büste im Kapitolinischen Museum in Rom, die des Metrodor aus einer Statue in Kopenhagen und wiederum einer Büste im Kapitolinischen Museum in Rom.

Epikur und Metrodor agieren und argumentieren nicht, sondern sind in stilles Denken versunken. Die Länge ihrer Mäntel entspricht denen der Männer auf athenischen Grabreliefs, auch die Drapierung mit den vielen harmonisch schwingenden Falten ähnelt mehr den Figuren des 4. Jahrhunderts v.Chr. als der etwa gleichzeitig entstandenen Menanderstatue.

Ebenso deutlich wie die Statuen sind die Köpfe in die Tradition eingebunden. Das Porträt Metrodors unterscheidet sich nur durch leichte Alterszüge und leichte Mimik von den entsprechenden Typen der Grabreliefs. Das zeigt besonders gut der Vergleich mit dem Kopf einer originalen athenischen Grabstatue aus den Jahren um 310 v.Chr. in Berlin.

Auch das Porträt des Epikur lässt sich mit diesem Kopf vergleichen, auch wenn es auf den ersten Blick deutliche Unterschiede zeigt. Doch bei genauerer Betrachtung sieht man, dass das Porträt Epikurs die gleiche Grundform wie der Kopf in Berlin hat. Diesem Modell wurden die tiefen Denkerfalten Epikurs hinzugefügt, welche dann allerdings das Aussehen stark verändern.

Eine animierte Bildsequenz kann veranschaulichen, wieweit die Porträts des Epikur und Hermarch einerseits der Tradition attischer Bildnisse des 4. Jahrhunderts v.Chr. verpflichtet sind und wieweit andererseits eine behutsame Individualisierung ihre Porträts auszeichnet. Die anonymen Köpfe von attischen Grabreliefs sind hier in eine Reihe mit den Philosophenporträts gebracht, die nur als römische Kopien bekannt sind.

Das Porträt des Hermarch, der seit 270 v.Chr. Leiter der epikureischen Schule war, gleicht seinerseits dem des Metrodor; es zeigt etwas mehr denkerische Anspannung. Die gepflegten Frisuren mit schönen Locken unterscheiden sich deutlich von den Frisuren und Barttrachten der Stoiker und entsprechen den Normen des 4. Jahrhunderts v.Chr.Im stillen versunkenen Denken der Epikureer waren wohl zentrale Lebensprinzipien der Epikureer thematisiert. Sie argumentierten und diskutierten weniger als Anhänger anderer philosophischer Schulen und lebten in Freundeszirkeln, abgeschieden von der Welt. Die Anpassung an das traditionelle Normalbild attischer Bürger kann so interpretiert werden, dass sie sich einfügen und nicht auffallen wollten.

Aus epikureischen Grundsätzen lassen sich wahrscheinlich auch die unterschiedlichen Sitzmöbel der drei Philosophen deuten, die angesichts der Ähnlichkeit der Statuen besonders auffallen. Der löwenfüßige Thron Epikurs erinnert an Ehrensitze in griechischen Theatern, Metrodor sitzt auf einem normalen Stuhl, Hermarch auf einem einfachen Quader. Vielleicht sollte durch den unterschiedlichen Aufwand der Sitzmöbel die Rangfolge angezeigt werden. An der Spitze und weit abgehoben stand Epikur; ein zentrales Anliegen der Epikureer war, seine Gedanken nachzuvollziehen. Zwischen Metrodor und Hermarch gab es dann nochmals eine Rangabstufung. Das Bemühen, diesen Rangunterschied auszudrücken, könnte auch dazu geführt haben, dass nur Epikur eine tief gefurchte Denkerstirn erhielt, während die anderen eine vergleichsweise entspannte Mimik aufweisen.

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Kopf & Körper